Als der argentinische Literaturmagier Jorge Luis Borges sich 1941 anschickte, die Grenzen des Universums neu zu vermessen, da nannte er dieses eine "Bibliothek". Von dieser, der Bibliothek von Babel, lässt sich einiges Nützliche sagen. Als Vermessungskünstler vergaß Borges durchaus nicht auf die Unendlichkeit. Seine Babel’sche Bibliothek besteht aus sechseckigen Waben oder Modulen. Deren Zahl ist unabsehbar. Die kristalline, haptisch fassliche Anmutung der unzähligen Galerien mit ihrer sauber geleimten Tragelast lässt in keinem Augenblick das Dilemma vergessen, dem jedermann sich aussetzt, der auf die theologische Strahlkraft der Unendlichkeit spekuliert.

Borges denkt nach-talmudisch, insofern er die Zeichen, die laut seinem Zeugnis die gegen unendlich gehenden Seiten in den Milliarden und Abermilliarden von Büchern bedecken sollen, per Hand verliest. Der Chronist der Bibliothek gibt, da er ihr privilegierter Benützer ist, den gelehrigen Schüler de Saussures.

Das erste Axiom seiner kleinen Abhandlung lautet: "Die Bibliothek existiert ab aeterno", wobei die beiden lateinischen Wörter kursiv gedruckt sind. Das zweite Axiom ist für unseren Zusammenhang noch bedeutsamer: "Die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig." Borges schiebt der Vorstellung einer "schlechten" Unendlichkeit somit den Riegel vor. Die Anzahl der Zeichen ist endlich. Der Überlauf des einen Buchs in ein benachbartes anderes – in sein besseres, vollständigeres Andere? – entfaltet sich entlang einer Linie, und diese lässt sich als Sequenz oder lediglich als kombinatorische Fortschreibung des jeweils Vorfindlichen deuten.

Es kann nicht Sache dieses Textes sein, Borges‘ äußerst nutzbringende Vorschläge zur Katalogisierung der von ihm namhaft gemachten Zeichenvorräte aufzugreifen. (Sie zeigen ihn unter anderem als Erfinder eines "samojedisch-litauischen Dialekts mit einem Einschlag von klassischem Arabisch", was allein schon deshalb bestürzt, weil Borges die Verworrenheit eines solchen Buchfundes einem anderen, fünfhundert Jahre älteren Sechseck-Bewohners in die Schuhe schiebt. Wie anders denn durch die Lektüre eines gelehrten Kompendiums mag Borges‘ Erzähler auf die Existenz eines solchen Vorgängers gestoßen sein? Und wie verhält es sich mit dem Inhalt des Buches selbst? Der von einem "ambulanten Entzifferer", also womöglich einem Scharlatan, als "Begriffe der kombinatorischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederholender Variationen" ausgewiesen worden sein soll?)

Es gehört im Licht des obig Gesagten zur Unterscheidung legitimer von illegitimen Bibliotheken, dass der Bibliomane, der auf die Stichhaltigkeit des zu erwerbenden Wissens Wert legt, der Handreichung durch einen Qualifizierten bedarf. "Ambulant" wird man einen solchen "Entzifferer" nicht leichthin nennen wollen. Borges, der von den Babel’schen Verhältnissen auch nur erzählt, was ihm ein Traum eingegeben hat, übt die List, jedem Sechseck einen idealtypischen Leser zuzuordnen, der wie eine Kafka- oder Beckett-Figur inmitten köstlicher Lesevorräte thront.

Derart ineinander verschränkt, unterscheidet sich das Walten unverantwortlicher Kontingenz kaum noch vom Wesen einer Notwendigkeit, die sich für unumstößlich ausgibt. Wir, die wir auch Borges überlebt haben, dürfen auf die Vertrauenswürdigkeit der Netzkultur nicht hoffen.

Die Handfertigkeiten unserer Bibliothekare – und waren jene auch noch so bescheiden – haben auf den Eifer der Suchmaschinen abgefärbt. Die Bevorratung, mit der diese uns bedenken, konfrontiert uns mit der schlechtest möglichen Form von Unendlichkeit. Indem das Internet sich als gefräßiger Raum schlechthin produziert – und es produziert in der Tat nichts anderes als sein eigenes, permanentes Wachstum -, verlockt und provoziert es mit der Erreichbarkeit von Wissen. Als ob dieses ausfiele, oder seinen Namen nicht verdiente, sobald auch nur ein Bröckchen durch die Maschen des Netzes fiele.

Den Dingen wird so der Lebenssaft entzogen. Jedes Wachstum an Einsicht ist vor der Zeit verholzt – insofern es die Zeit selbst ist, die durch die Verheißung potenzieller Allgegenwart aufgehoben wird und den Fluch ewiger Gegenwart bewirkt. Das Buchpapier zerfällt zu modrigem Staub. Dessen Wiederkäuer flüchten zurück in Jorge Luis Borges‘ sechseckige Galerien. Von jeder einzelnen gehen "zwei winzigkleine Kabinette" ab: "In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten." Vielleicht sieht man diese Narren des digitalen Zeitalters heiße Zähren vergießen. Die Blätter verdorren unter den Händen dieser Leser und ringeln sich ein im Buchdeckelgrab. (Ronald Pohl, 23.6.2017)