Alberto Giacometti auf der Venedig-Biennale 1956.


Foto: Alinari/Roger-Viollet

Wer denkt bei der Erwähnung von Alberto Giacomettis Namen nicht unwillkürlich an die langen, schlanken Skulpturen des großen Schweizers? Solchen Wiedererkennungswert weit über die Grenzen seines Geburtslandes hinaus, wo er die 100-Franken-Note ziert, genießen nur ganz wenige Künstler des 20. Jahrhunderts. Darin steckt aber auch eine Gefahr: "Kenne ich schon, weiß ich schon", mögen sich manche Kunstinteressierte gelangweilt denken.

Wie falsch das wäre, zeigt sich spätestens nach der Hälfte der Londoner Giacometti-Retrospektive: mit acht Figuren aus der berühmten Frauen von Venedig-Serie, die seit ihrer Präsentation auf der Biennale 1956 nicht mehr gemeinsam zu sehen waren. "Der sie umgebende Raum vibriert", schrieb Giacomettis Freund Jean Genet während des Entstehungsprozesses. Eine Ahnung davon ist auch hier zu spüren – unmittelbarer als viele Bronzegüsse geben die Gipsfiguren einen Eindruck von der scheinbar nicht endenwollenden Handarbeit des Meisters. Zwei bekommen durch die Bemalung mit dunkelrot-schwarzen Linien zusätzliche Lebendigkeit.

Es gehe nicht um eine wahrheitsgetreue Abbildung der Realität, sagte Giacometti; er wolle eine Realität schaffen, "deren Intensität dem Leben gleicht". Was er damit meinte, zeigt der 16-minütige Ausschnitt aus einem Film von Ernst Scheidegger und Peter Münger. Mit ungeheurer Intensität arbeitet der kettenrauchende Künstler an einer Büste und spricht dabei über seine Arbeit: Erfolg habe er eigentlich nur im Scheitern.

Aber was für ein Scheitern! Und welche Breite des Schaffens! Der älteste Sohn eines spätimpressionistischen Malers zeigte schon als Schüler sein großes Talent und blieb produktiv bis ans Ende seines knapp 65-jährigen Lebens.

Das zeigen die Ausstellungsmacherinnen programmatisch gleich im ersten Raum mit 24 Büsten aus knapp 50 Jahren – ein Wald unterschiedlicher Menschen in unterschiedlichem Material aus den diversen künstlerischen Phasen, vom Kopf eines Kindes aus dem Jahr 1917 bis zu Annette, seiner Frau, aus dem letzten Lebensjahr. Der menschliche Körper sei "sehr, sehr wichtig" gewesen für Giacometti, sagt Ko-Kuratorin Catherine Grenier von der Pariser Giacometti-Stiftung, "der Kopf war eine Obsession".

Brutalität

Unheimlich in seiner Brutalität etwa die abstrakte Skulptur Frau mit durchschnittener Kehle (1932), eine Leihgabe der schottischen Nationalgalerie. Die grotesk verlängerte Nase (ca. 1947) erinnert an diese surrealistische Phase.

Der Gipsabdruck gehört zu mehreren Werken im Besitz der Pariser Stiftung, die noch nie öffentlich ausgestellt waren. Büsten und Ölgemälde, die seinen Bruder Diego zeigen, ziehen sich durch die Lebensphasen und damit auch durch die unterschiedlichen Ausstellungsräume. Diego, von 1943 an seine spätere Frau Annette, in den letzten Lebensjahren noch die Geliebte Caroline: Giacometti wandte sich immer wieder den gleichen Modellen zu und hielt an seinem Interesse am menschlichen Körper, insbesondere dem Kopf, fest.

Diese Besessenheit verfolgte ihn durch sein überwiegend in Paris verbrachtes Künstlerleben, in dem es Phasen des Kubismus und Surrealismus gab, auch Zeiten der Beschäftigung mit altägyptischer sowie "primitiver" Kunst, längst nicht nur die Stabmenschen der Spätphase. Weitgehend seiner Lebens-Chronologie folgend, wirft jeder Raum ein Schlaglicht auf entscheidende Momente. Mehr als 250 Stücke sind zu bewundern – hinter der Ausstellung steckt die ganze Power der Tate Modern, schließlich fungierte Direktorin Frances Morris als Ko-Kuratorin.

Die schlanken, ja ausgemergelten Figuren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weckten bei den vielfach selbst noch hungernden Zeitgenossen die auf der Hand liegenden Assoziationen. Beim ersten Hinsehen, schrieb Jean-Paul Sartre in einem berühmten Essay für eine Ausstellung 1948 in New York, fühle man sich an Figuren aus dem KZ Buchenwald erinnert: "Aber dann erheben sie sich zum Himmel." (Sebastian Borger, 24.6.2017)