"Ehe für alle": Deutschland ist dabei, die Ehe zu öffnen. Birgit Baumann beantwortet Fragen aus dem STANDARD-Forum.

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Ein Mauerfall in den Köpfen findet gerade statt, schreibt eine Twitter-Userin.

Nachdem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Podiumsdiskussion die "Ehe für alle" nicht mehr kategorisch abgelehnt hatte, erklärte der SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz prompt, dass noch am Freitag – dem letzten Sitzungstag vor der Sommerpause – darüber abgestimmt werde. Ein Antrag für die "Ehe für alle" liegt bereits seit Jahren bereit, kam aber nie zum Einsatz, daher sei eine rasche Abstimmung auch möglich. Über den Gesetzesentwurf wurde mittlerweile abgestimmt, 393 Parlamentarier, darunter auch ein Viertel der Unionsabgeordneten, stimmten dafür, die Kanzlerin votierte gegen das Gesetz.

Über politische Machtspiele, Verfassungsänderungen und das staatliche Interesse an der Ehe machen sich die User in den STANDARD-Foren Gedanken. Judith Handlbauer hat Fragen aus dem Forum ausgewählt, Deutschland-Korrespondentin Birgit Baumann beantwortet sie.

Die "Ehe für alle" könnte für Merkel der Einsatz beim Koalitionspoker sein. Welche Punkte könnte sie mit dem Aufgeben des Widerstands bei der "Ehe für alle" in einem Koalitionsabkommen durchbringen?

Birgit Baumann: Gar keine mehr. Die SPD kämpft seit Jahren für die "Ehe für alle". Wenn nun am Freitag im Bundestag das Votum fällt und die SPD ihre Mehrheit bekommt, dann ist das emotionale Thema im letzten Moment für diese Legislaturperiode abgeräumt. Für die nächsten Koalitionsverhandlungen heißt es: Neues Spiel, neues Glück. Egal, wer die Verhandlungen führt, man wird über andere Themen sprechen. Rückblickende Dankbarkeit der SPD braucht Merkel in diesem Fall nicht erwarten.

Wie wichtig ist es für die SPD, im Wahlkampf auf dieses Thema zu setzen?

Birgit Baumann: Es ist ein wichtiges Thema, aber nicht nur inhaltlich. Die SPD nutzt es nun auch, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Ihre Botschaft: Seht her, wir machen Druck, wir bleiben dran, wir zwingen Kanzlerin Merkel zu Änderungen. Und wenn Schulz erst einmal Kanzler ist, dann können wir noch viel mehr verändern ... Ob es dazu kommt, sei aber mal dahingestellt.

Hätte Merkel nicht eingelenkt, wäre das Thema "Ehe für alle" im Wahlkampf immer wieder aufgetaucht.

Birgit Baumann: Die Mehrheit ist für die "Ehe für alle". Im Auftrag der "Bild"-Zeitung hat sich das Institut Insa umgehört und kommt zu folgendem Ergebnis: Drei Viertel der Befragten sind für eine Gleichstellung, zwei Drittel wollen zudem das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Bei SPD, Linken und Grünen ist die Zustimmung besonders hoch. Selbst 73 Prozent der Unions-Wähler wollen die "Ehe für alle". Die einzige Partei, in der die Gegner in der Mehrzahl sind, ist die Alternative für Deutschland (AfD).

Birgit Baumann: Tatsächlich gibt es nur noch eine gravierende Benachteiligung. Homosexuellen Paaren ist die Adoption eines "fremden" Kindes verwehrt, nur die Stiefkind-Adoption ist zulässig – wenn also ein Partner bereits ein Kind mitbringt. In den vergangenen Jahren hat es eine Reihe von Gleichstellungen gegeben, etwa im Steuerrecht. Dafür hat die Politik auf Druck des Bundesverfassungsgerichts gesorgt, das mit entsprechenden Urteilen die Aufträge erteilte. Viele Homosexuelle wollen aber in ihrer Partnerschaft auch von "Ehe" sprechen, nicht von "Verpartnerung" oder "Homo-Ehe". Letzteres wird als Abwertung gesehen.

Birgit Baumann: Das ist die Frage, die im Moment viele umtreibt. Für den aktuellen Fall gibt es noch keine Rechtsprechung. Man kann aber davon ausgehen, dass die Materie schnell in Karlsruhe beim Verfassungsgericht landen wird. Dieses wird dann prüfen, ob eine Ehe "nur" aus Mann und Frau bestehen kann oder eben auch aus Mann und Mann beziehungsweise Frau und Frau.

Was würde die "Ehe für alle" für eine etwaige Verfassungsänderung bedeuten?

Birgit Baumann: SPD, Grüne und Linke sind der Meinung, es reiche eine einfache Mehrheit. In der Union gibt es Skepsis. Dort verweist man auf Artikel 6 des Grundgesetzes, der die Ehe unter einen besonderen Schutz des Staates stellt. Viele in CDU/CSU meinen, man müsse eigentlich das Grundgesetz ändern, dafür bräuchte es eine Zwei-Drittel-Mehrheit.

Und ob die Entscheidung für die "Ehe für alle" in Deutschland auch Auswirkungen auf Österreich haben wird, fragt sich "Frico":

Birgit Baumann: Ich denke, die deutsche Entscheidung wird die österreichische Debatte beschleunigen.

Merkel hat ihren Widerstand nicht aufgegeben, weil sie nun absolut für die "Ehe für alle" ist, sondern weil sie erkannt hat, dass sie das Thema nicht mehr unterm Deckel halten kann. Wenn Sebastian Kurz zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt, könnte er Merkel folgen. (Birgit Baumann, Judith Handlbauer, 29.6., Update 30.6.2017))