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EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (Mitte) besuchte die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid und Premierminister Juri Ratas: "Das Digitale steckt in der DNA Ihres Landes."

Foto: REuters/Ints Kalnins

"Europa hat uns sehr geholfen", sagt Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid zum Auftakt des EU-Vorsitzes ihres Landes am Wochenende in der Hauptstadt Tallinn. Jetzt sei "die Zeit gekommen, dass wir das zurückgeben". Als sie 15 gewesen sei, kurz vor der "singenden Revolution" der Balten gegen das sowjetische Regime Ende der 1980er-Jahre, habe sie sich nicht vorstellen können, dass ihr Land einmal Mitglied von EU und Nato sein und den Euro als Währung haben werde.

"Und jetzt bin ich Präsidentin", erklärt die 47-Jährige, in einem freien Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern. Es sei kein Wunder, wenn drei Viertel ihrer Landsleute proeuropäisch seien, sagt Kaljulaid. Sicherheit, der Schutz auch in der Nato, ist in der Baltenrepublik als Thema allgegenwärtig.

"Das Beste", was Estland habe, sei aber der Fortschritt, den man durch konsequente Digitalisierung des gesamten öffentlichen Lebens seit mehr als einem Jahrzehnt erzielt habe, sagt Premier Juri Ratas. Er hat die EU-Kommission nach Tallinn eingeladen, um die Arbeitsschwerpunkte für die nächsten sechs Monate zu besprechen. Das meiste ergibt sich aus der aktuellen Problemlage der Union: die Verhandlungen zum Brexit; der Versuch, in der Migrationskrise Fortschritte mit den Mitgliedstaaten zu erzielen; die Umsetzung von Energieunion und Umweltpaket.

E-Identität für alle

Das alles spulen Ratas und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker routiniert ab. Das eigentliche Thema aber, auf das der Premier setzt, ist die Digitalisierung: "Das digitale Leben bekommt erste Priorität", sagt er. Neben den vier Grundfreiheiten der EU – freier Verkehr für Kapital, Arbeit, Dienstleistungen und Personen – wolle man als Ziel der Union die "digitale Freizügigkeit" als fünfte Freiheit durchsetzen.

Praktisch gesprochen: Jeder EU-Bürger solle das Recht haben, sich im öffentlichen Leben mit digitalen Mitteln zu bewegen, solle seine Behördenwege nicht mehr mit Papier abwickeln müssen. Die Esten sind das in der Union am meisten "digitalisierte" Volk. Jeder Bürger hat eine "E-Identität". Mit seiner E-Card kann er wählen, Arztbesuche checken, samt Übertragung der Gesundheitsdaten, sowie Steuern, Anmeldungen oder was auch immer abwickeln. Das soll dem Rest Europas als Beispiel dienen, erklärt Ratas.

Künftig würden digitale Techniken praktisch alles bestimmen, was Alltag und Arbeitsleben der Menschen ausmache. Und es werde dabei in gewisser Weise keine Staatsgrenzen geben. "Deshalb braucht es eine fette, eine sehr tiefgehende Transformation", sagt Siim Sikkut. Der Staatssekretär im estnischen Wirtschaftsministerium berichtet fast euphorisch, wie sich sein Land geändert habe: "Es ist deshalb so wichtig, dass bereits kleine Kinder in der Volksschule programmieren lernen."

Digitaler Wohnsitz

Der entscheidende Punkt beim Wandel sei nicht die Technologie, sondern die Menschen, ihre Bereitschaft, zu lernen, sich anzupassen, Grenzen zu überschreiten. Der neueste Trend: Für nur 100 Euro kann man in Estland einen "digitalen Wohnsitz" erwerben. "Wir haben bereits 20.000 von irgendwo auf der Welt, die bei uns registriert sind", begeistert sich Sikkut. Damit könne man bürokratiefrei zum Beispiel ein Unternehmen aufmachen, im Netz betreiben. Das Ziel: Bis 2025 will die Regierung zehn Millionen "E-Residencys" schaffen, fast zehnmal so viele wie reale Einwohner.

Die Datenfreizügigkeit würde im Binnenmarkt 400 Milliarden Euro an Wertschöpfung schaffen sowie abertausende Arbeitsplätze, träumt der Premier in einer Pressekonferenz mit Juncker.

Das "Digitale steckt in der DNA Ihres Landes, und es muss Teil der europäischen DNA werden", sagt dieser und verweist auf das Problem der Cybersicherheit. Bis 2020 werde es 50 Milliarden vernetzte Geräte geben, die Angriffe im Netz nähmen sprunghaft zu, um 300 Prozent im Jahr 2016. Ratas sieht darin keinen Grund für Defensive: "Wir wollen alles tun, um die Einheit der Union zu stärken", sagt er, neben Brexit, Migration und Eurokrise müsste die EU wieder in eine positive Richtung geführt werden.

Vorbild Helmut Kohl

Ein Beispiel dafür, worin solche Führung bestehe, habe der verstorbene deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl gegeben, der am Samstag in einem europäischen Staatsakt, der von Straßburg bis in den Dom von Speyer reicht, begraben wird. Juncker würdigte ihn in Tallinn als herausragende Persönlichkeit: "Er war ein deutscher und ein europäischer Patriot, der darin keinen Widerspruch erkennen konnte." (Thomas Mayer aus Tallinn, 1.7.2017)