Proteste gegen angeblichen Wahlbetrug beim Türkei-Referendum im vergangenen April fanden auch in Deutschland statt (hier Potsdamer Platz, Berlin).

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Wien – Im vergangenen April konnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mithilfe eines Referendums seine Macht deutlich ausbauen. Laut offiziellen Angaben stimmten 51,4 Prozent der wahlberechtigten Türken für eine Verfassungsreform – schon kurz danach wurden Stimmen laut, die von Unregelmäßigkeiten, von angeblicher Wahlbeeinflussung und -fälschung sprachen.

Komplexitätsforscher vom Complexity Science Hub in Wien-Josefstadt legten nun auf der Plattform Arxiv.org eine Analyse der seit Juni zugänglichen Daten vor. Sie betonen, dass Wahlzettel ohne offiziellen Stempel verwendet wurden, was die Basis für das in autoritären Systemen allzu übliche "Ballot-Stuffing" schaffe: Dabei würden Wähler mehrere vorab ausgefüllte Wahlzettel in die Urne werfen. Dazu habe es Berichte von starker Polizeipräsenz im Umfeld von Wahllokalen gegeben und von Kontrollen der Bürger, die zur Wahl gehen wollten. Das deutet auf "Voter-Rigging" (Wählerbeeinflussung durch psychischen Druck), sagt der Physiker Peter Klimek. Er, Stefan Thurner, Präsident des Hub, und internationale Kollegen speisten zwei Testalgorithmen mit den Daten, um rein rechnerisch herauszufinden, ob "Ballot-Stuffing" und "Voter-Rigging" möglich waren.

"Die Analysen beider Tests sind positiv ausgefallen", sagte Klimek. Es gebe also statistisch signifikante Signale, die solche Arten von Wahlbetrug nahelegen. Die Unregelmäßigkeiten seien zwar nicht sehr groß, durch den knappen Ausgang des Referendums aber wahlentscheidend. "Wir identifizierten Unregelmäßigkeiten in circa sechs Prozent der Wahlstationen, deren Einfluss gerade groß genug war, um die Mehrheitsverhältnisse zugunsten eines Ja zur Verfassungsänderung zu kippen", sagt Thurner.

Die Daten des umstrittenen Türkei-Referendums konnten die Komplexitätsforscher natürlich noch nicht in ihrer aktuellen Studie im Fachjournal "Science Advances" verwenden – die Vorlaufzeit für Publikationen in Magazinen ist entsprechend lang. Peter Klimek stellte hier mit Kollegen einen Schnelltest vor, mit dem man solche Unregelmäßigkeiten erkennt. So können am selben Tag OSZE-Beobachter in auffällige Wahllokale geschickt werden.

Die Forscher erstellen dazu einen "Fingerabdruck" aller Wahllokale. Dann vergleichen sie die Fingerabdrücke kleiner Wahlsprengel mit jenen von größeren benachbarten. Sind sie nicht deckungsgleich, hat es in dem kleineren Bezirk vermutlich Wählermanipulation gegeben, so die Logik.

Kleines Einzugsgebiet

Wahllokale mit kleinem Einzugsgebiet seien viel gefährdeter in Hinsicht auf solche Manipulationen, sagen die Forscher: Zum Beispiel, weil dort Parteimitarbeiter eher mögliche Opfer kennen, es weniger Augenzeugen gibt und kaum offizielle Beobachter anwesend sind. Indem man stets benachbarte Sprengel vergleicht, wird ausgeschlossen, dass unterschiedliches Wahlverhalten etwa von Stadt- und Landbewohnern oder Mobilisierung durch Verbände und Gewerkschaften das Testergebnis beeinflussen.

Die Berechnung dauert ein paar Minuten. Man könnte also zum Beispiel bei einer Wahl die bis Mittag eingetroffenen Ergebnisdaten analysieren und bei starken Unregelmäßigkeiten am Nachmittag Wahlbeobachter in die betroffenen Lokale schicken, erklärte Klimek. Bisher sei der Nachweis von Wahlbetrug und -manipulationen nur durch großen Aufwand möglich gewesen.

Mithilfe dieses Tests haben sich die Forscher 21 vergangene Wahlen in zehn Ländern näher angeschaut. In Österreich, Finnland, Kanada, Spanien und Frankreich waren die Ergebnisse unauffällig und somit wohl korrekt. Sie fanden aber starke Hinweise auf Wählermanipulation bei den Urnengängen von 2007 und 2011 in Russland und seit 2006 in Venezuela. (red, APA, 30.6.2017)