Nackte Tatsachen braucht oft keiner, tätige Nacktheit dagegen schon: Unernst ist gut für die Psyche, Politik allerdings der falsche Platz dafür.

Grafik: Felix Pablo Grütsch

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen, / Wenn die, so singen oder küssen, / Mehr als die Tiefgelehrten wissen, (...) Und man in Märchen und Gedichten / Erkennt die wahren Weltgeschichten": Wäre der Begriff des Postfaktischen nicht erst im letzten Jahr aufgekommen, dann könnte man Novalis mit gewissem Recht als Verkünder einer postfaktischen Grundhaltung bezeichnen. Denn genau so ein Zustand, der über Daten und Fakten hinaus zu sein glaubt und gewissermaßen nach den Fakten kommt, ist mit dem Begriff des Postfaktischen gemeint.

IS-Gründer Obama

Ein paar wenige Beispiele dazu: Im US-Wahlkampf behauptet Donald Trump, Präsident Barack Obama habe die Terrororganisation "Islamischer Staat" gegründet. Kellyanne Conway, Trumps Beraterin, erklärt im Jänner 2017, man habe "alternative Fakten" zur Zahl der Anwesenden bei Trumps Amtseinführung. Trump leugnet den anthropogenen Klimawandel und bezeichnet ihn als Erfindung der Chinesen in der Absicht, der amerikanischen Wirtschaft zu schaden.

Es ist die Frage, wie man sich gegen solche Angriffe auf einen rationalen politischen Diskurs wehren kann. Das Erste, was einem von pädagogischer Warte aus dazu einfallen wird, sind wahrscheinlich verstärkte Bildungsbemühungen. Trumps Leugnung des menschengemachten Klimawandels wäre so vor allem ein Fall für den Naturwissenschaftsunterricht. Gegen die Feinde der Aufklärung, so sollte man meinen, hilft vor allem: immer noch mehr Aufklärung.

Wie sieht es aber in diesem Zusammenhang mit dem Literaturunterricht aus? Kann man Texte von Novalis mit ihren antirationalen Träumereien eigentlich noch ohne Warnhinweis unterrichten, wenn mittlerweile ein Donald Trump den Menschen tatsächlich "Märchen und Gedichte" auftischt und auf "Zahlen und Figuren" pfeift? Wie lässt sich vor diesem aktuellen Hintergrund literarisches Lernen in der Schule überhaupt noch rechtfertigen?

Lausiger Problemlöser Hamlet

Fraglos wollen literarische Texte und ihre Leser oft genug von Problemstellungen draußen in der Welt gar nichts wissen. Sich bei der Lektüre in fiktive Welten zu verlieren heißt nicht selten, vor den Fakten die Augen zu verschließen. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Künstlerinnen und Künstler oft eine starke Neigung zu Rausch, Sinnlichkeit, Manie und Depression haben und mit Gesundheit, sozialer Lebenstüchtigkeit und sogar der Vernunft nicht unbedingt auf dem besten Fuß stehen. Ein tiefer Unwille, sich in lebenspraktischen Fragen zu bewähren, findet sich gerade auch in prominenten literarischen Figuren wieder: Hamlet ist ein lausiger Problemlöser, Werther geht seine Probleme nicht an, Effi Briest eigentlich auch nicht und Gregor Samsa schon gar nicht. Der Schriftsteller Robert Gernhardt ging so weit, der Dichtung rundweg den tieferen Ernst abzusprechen. Er behauptete, "daß alle Gedichte komisch sind".

Aber vielleicht ist es ja so, dass Literatur zur allseitigen Bildung des Menschen gerade aus dem Grund beiträgt, dass sie ihrem Wesen nach Spiel und höherer Unsinn ist. Sie verweigert sich dem verbissenen Ernst, dem Diktat der Zwecke, dem "Es muss etwas geschehen" aus Bölls Wirtschaftswundersatire. Nichts muss geschehen, von einem poetischen Standpunkt aus, alles ist schon längst geschehen und wartet allenfalls aufs Wiedererzähltwerden. Die tief ironische Grundhaltung des Künstlertums, die gründliche Weigerung, das Weltgeschehen mit seinen Anforderungen ernster zu nehmen als höchstens ein Gleichnis, ist für den literarischen Leser entlastend. Gar nicht so sehr im Sinne eines Abtauchens aus der Realität, einer Flucht in fiktive Ersatz- und Traumwelten; vielmehr als ein Auftauchen aus einer Realität, die selber plötzlich als Region der Täuschung und Verblendung erscheint. Natürlich muss man immer wieder in die Welt der Zwecke und zu den Forderungen des Tages zurück. Aber Kunst und Literatur ermöglichen es dem Menschen, gleichsam Luft zu holen und dabei an Gelassenheit, Ruhe und Humor zu gewinnen.

Menschen brauchen also gerade den Unernst der Kunst – und von diesem Bedürfnis profitiert ein politischer Hasardeur wie Donald Trump. Ein amerikanischer Journalist hat ihn mit Berufung auf Harry Frankfurt als "bullshit artist" bezeichnet. Donald Trump: ein Künstler! Und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen: Da ist seine divenhafte Empfindlichkeit, da ist seine Selbstdarstellungs- und Mitteilungssucht via Twitter. Vor allem aber: Trump liebt Fiktionen und spielt damit. Er erzählt den Menschen Geschichten, für deren Übereinstimmung mit der Realität er keinerlei Verantwortung übernimmt. "Stell dir vor, es gäbe keinen menschengemachten Klimawandel! Angenommen, der Klimawandel wäre eine Erfindung der Chinesen. Es war einmal die Amtseinführung eines amerikanischen Präsidenten, zu der kamen so viele Menschen wie noch niemals zuvor." Das ist originell erfunden, klingt gut, ist in Maßen unterhaltsam und kümmert sich nicht um nachprüfbare Tatsachen – genau wie die literarische Fiktion.

Hunger nach Nonsens

Trumps Anziehung auf die Masse der Wähler erklärt sich nicht zuletzt aus dem Einsatz einer heruntergekommenen Poetizität. Was im amerikanischen Wahlkampf zum Unverständnis, ja zum Entsetzen der aufgeklärten westlichen Welt geschah, war, dass Trump durch keine Berufung auf Fakten und Vernunft gestoppt werden konnte. Den Menschen gefiel offenbar seine künstlerisch-spielerische Lust an der kühnen Verdrehung und am Tabubruch, und es gibt Belege dafür, dass viele seiner Wähler Trump gar nicht unbedingt glaubwürdig fanden. Sie haben ihn gewählt, obwohl sie es besser wussten. Möglicherweise waren sie in einer Welt des Ernsts und der Zwecksetzungen ausgehungert nach Fiktionen, nach Nonsens, nach der originellen Unwahrheit.

Wenn dem aber so sein sollte, dann wäre Aufklärung allein eine stumpfe Waffe gegen die postfaktische Demagogie. Gegen die politische Unsinnsdichtung hilft – natürlich die Wahrheit, aber vielleicht nicht allein. Vielleicht müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass man gegen die platte Lüge die schöne Lüge setzen muss. Oder, weniger verfänglich gesprochen: gegen die verblendende Fiktion die erhebende Fiktion.

Meine These lautet: Menschen benötigen für ihr psychisches Gleichgewicht den entlastenden, kathartischen Unernst, wie Kunst, Literatur und Fiktion ihn gewähren; und wenn der ihnen vorenthalten wird, suchen sie ihn auch in Lebensbereichen auf, wo Unernst und Fiktion gründlich fehl am Platz sind. Wenn es aber dem Literaturunterricht gelingt, das ästhetische Empfinden der Schülerinnen und Schüler tatsächlich anzusprechen und das menschliche Grundbedürfnis nach Fiktion, Spiel und schönem Schein dort zu stillen, wo es seinen angestammten und bewährten Platz hat, nämlich im Bereich der Kunst und Literatur: Dann wäre auf lange Sicht auch zu hoffen, dass es populistischen Rattenfängern nicht mehr so leicht fällt, dieses Bedürfnis für ihre Zwecke auszunutzen. (Johannes Odendahl, 7.7.2017)