Der große Aufklärer Immanuel Kant (in Gelb) und seine Kumpanen beim Tischgespräch, inspiriert von Musen. Hier eine Seite aus der aktuellen Graphic Novel "Lampe und sein Meister Immanuel Kant" von Antje Herzog, nachempfunden einem Gemälde von Emil Doerstling.

Foto: Antje Herzog / Edition Büchergilde

Klagenfurt – Angesichts der Wiederkehr religiöser Fundamentalismen und politischer Führungspersönlichkeiten vom Format eines Donald Trump oder Viktor Orbán drängt sich heute verstärkt die Erinnerung an eines der größten Projekte der europäischen Geistesgeschichte auf: die Aufklärung. Von ihrer zentralen Forderung, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, scheint man mehr als zwei Jahrhunderte nach Kant wieder weiter entfernt als noch vor einigen Jahrzehnten.

"Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen", postulierte der große Theoretiker der Aufklärung, der vor allem in Feigheit und Faulheit die mächtigsten Feinde des "Selbst-Denkens" erkannte: "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."

Heute kommen auch noch die (sozialen) Medien dazu, die uns bei der Meinungsbildung permanent unter die Arme greifen. Das spart Reflexionsenergie auf dem Weg zu unseren Urteilen über die Welt und ihre Erscheinungen. Wie also sieht es mit unserer Urteilkraft aus? Immerhin bildet sie das Fundament, auf dem jedes einigermaßen vernunftgeleitete Handeln fußt. Ohne sie kann es keine aufgeklärte Auseinandersetzung geben – und die ist letztlich die Basis unserer Demokratie.

Es ist deshalb zurzeit eine der dringlichsten Aufgaben der Geistes- und Kulturwissenschaften, sich mit der wieder einmal hochaktuellen Frage nach dem aufgeklärten Denken, seinen Voraussetzungen, seinen Folgen und seiner Geschichte zu beschäftigen – und mit den Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wurde mit dem kürzlich gegründeten interuniversitären Kooperationsprojekt Judgement gesetzt.

Im Zentrum steht dabei der in der Frühen Neuzeit geprägte Begriff der Urteilskraft. "In diesem Projekt sollen aus verschiedenen fachlichen Perspektiven jene in der Frühmoderne neu etablierten Grundwerte, Praktiken und Textsorten erforscht werden, die zur Aufwertung der Urteilskraft und damit zur Aufklärung beigetragen haben", erläutert die Romanistin Susanne Friede von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Gemeinsam mit der Philosophin Ursula Renz und dem Historiker Reinhard Stauber leitet sie die netzgestützte Forschungsplattform des vom Wissenschaftsministerium mit 200.000 Euro geförderten Projekts.

Da an den österreichischen Universitäten die Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit ohnehin intensiv beforscht wird, kann man bei dieser koordinierten Annäherung an die Grundlagen der Aufklärung aus dem Vollen schöpfen. "Was bis jetzt allerdings fehlte, war eine gemeinsame Organisationsstruktur", sagt Susanne Friede. Mit dem Judgement-Projekt soll nun die vorhandene Expertise vernetzt und auch international sichtbar gemacht werden.

Schlüssel zur Aufklärung

Als Schlüsselbegriff der Aufklärung beschreibt die Urteilskraft das geistige Vermögen eines Menschen, sich über bestimmte Sachverhalte eine eigenständige, fundierte Meinung zu bilden und diese als Urteile zu äußern. Das Nachdenken über die Urteilskraft spielte in vielen Bereichen der frühmodernen Geistesgeschichte zwischen 1450 und 1800 eine wichtige Rolle: in der Rechtstheorie, der politischen und der Erkenntnistheorie, in der Ästhetik und in der Literatur.

Der Urteilskraft traute man die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu. So kann mit ihr das eigene Verhalten beurteilt werden, indem man es mit den geltenden moralischen Prinzipien in Beziehung setzt. Die Aufwertung des Urteils im 17. und 18. Jahrhundert stärkte in der Wissenschaft die experimentelle Naturbeobachtung und in allen Lebensbereichen das Expertentum.

"Die Praxis des Expertenurteils, das auf den Kriterien von Kompetenz und Aufrichtigkeit beruhte, führte zur Entstehung einer eigentlichen Expertenkultur, die sich bis in die heutige Wissenschaftskultur und -gesellschaft erhalten hat", schildert Friede.

In der Literatur entstanden durch die Auseinandersetzung mit Urteil und Urteilskraft neue Textsorten wie etwa der unterschiedliche Meinungen differenziert abwägende Renaissancedialog. Literarische Utopien entwickelten ideale Gegenentwürfe zur politischen und gesellschaftlichen Realität. Durch das Hinterfragen von bis dahin unangetasteten Autoritäten und Automatismen wurden damit neue Räume für menschliches Handeln geöffnet.

Gegen alternative Fakten

"Mit der neuen Forschungsplattform möchten wir einerseits die historische, philosophische, philologische und kulturwissenschaftliche Forschung und Reflexion über das fördern, was Urteilskraft ist und leistet", betont das Klagenfurter Gründungsteam. Zugleich wolle man aber auch auf die zeitunabhängige Bedeutung dieses Vermögens aufmerksam machen, denn: "Die Kompetenz zur Analyse und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung benötigt unsere Zivilgesellschaft heute mehr denn je."

Neben der Uni Klagenfurt sind auch die Universitäten Wien, Graz und Salzburg beteiligt. Parallel zum Betrieb der Forschungs- und Organisationsplattform stehen Konferenzen und Workshops, die Einrichtung einer Homepage und die Vergabe von Stipendien für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf dem Programm.

Mittelfristig, so das ambitionierte Ziel der Initiatoren, soll aus der Forschungsplattform ein international vernetztes Kompetenzzentrum werden. Ein Unterfangen, mit dem die Geisteswissenschaften endlich jene gesellschaftliche Rolle einnehmen könnten, die ihnen in unserer "postfaktischen" Zeit mit ihrem gefährlichen Hang zu radikalen Instant-Urteilen eigentlich zukommt. (Doris Griesser, 15.7.2017)