Es sind die tausend Motive der kargen Landschaften Patagoniens, die Wanderer aus aller Welt in diese unwirtliche Gegend ziehen.

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Torres del Paine

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Im Torres del Paine Nationalpark: Im Hintergrund der Grey-Gletscher

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Sternenklare Nächte: Wenn man im Zelt übernachtet, sollte man einen sehr guten Schlafsack dabei haben.

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Sonnenaufgang am Perito Moreno Gletscher

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Tausende kahle Baumstümpfe ragen aus einem Flussbett des Río Ibáñez voller Kieselsteine und brauner schlammiger Asche.

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Nichts geht mehr, wir stecken fest an einer sanften Steigung. Und mit uns eine Handvoll anderer Fahrzeuge ohne Allradantrieb. Ein bedrohlicher Himmel hat sich schwarzgrau über die argentinische Steppe gelegt, all seine Tore geöffnet und die lehmige Straße in eine ockerfarbene Schlammpiste verwandelt. Eisig peitscht antarktischer Wind gegen die Scheiben unseres Minibusses, und wir sollen aussteigen. Unser Fahrer scheint es wirklich ernst zu meinen.

Zu schwer, meint er achselzuckend. Zwei Tage zuvor mussten wir sämtliches Gepäck in den Mercedes-Sprinter laden. Die holprige Straße war einfach zu viel für unseren klapprigen Anhänger. Irgendwann polterte es mächtig. Wie ein Anker grub sich das Vehikel in den Schotter und bremste uns unsanft aus. Achsenbruch. Nun stehen wir also verloren im Sturm in dieser unsäglichen Einöde. Doch auch ohne unser menschliches Gewicht drehen sich nur die Räder durch im Schlamm.

Metapher für das Äußerste

Sollten sie am Ende doch alle recht behalten? Die Entdeckungsreisenden von gestern, wie Ferdinand Magellan, Charles Darwin und Sir Ernest Shackleton, und die Schriftsteller aus jüngerer Vergangenheit. Die, die Patagonien selbst bereist hatten wie Bruce Chatwin und Paul Theroux und die, die ihre Romanhelden dorthin verfrachteten. Edgar Allan Poe oder Herman Melville etwa. Für den begnadeten Autor Chatwin stand jedenfalls fest: Seit seiner Entdeckung durch Magellan anno 1520 war Patagonien das Land der schwarzen Nebel und Wirbelwinde am Ende der bewohnten Welt.

Eine Metapher für das Äußerste, den Punkt, über den man nicht hinausgehen konnte. In Melvilles Roman "Moby Dick" steht Patagonien für das Ungeheuerliche und verhängnisvoll Verführerische, für die "unnennbaren und unentrinnbaren Gefahren, die dort lauern, dazu noch die tausend Wunder, die Patagonien für Auge und Ohr bereithält".

Am Ende der Welt

Wegen ein paar dieser tausend Wunder sind wir von weither gekommen und scheinen nun an genau dem Punkt zu sein, über den man nicht hinauskommt. Dabei begann unser Trekkingabenteuer eine Woche zuvor unter Bilderbuchbedingungen. Mit stahlblauem Himmel und Sonne, einem moderaten Wind vom Westpazifik, dazu frühlingshafte Temperaturen mit ein paar Grad über null.

Auf dem Weg in den kalten Süden haben wir uns in prächtigen Südbuchenwäldern warmgelaufen und schließlich eine der unbekanntesten Gegenden Patagoniens gestreift, den Parque Nacional Laguna San Rafael mit dem Campo de Hielo Norte, dem Nördlichen Patagonischen Eisfeld. 120 mal 60 Kilometer misst dieser Panzer noch. Er ist ein Überbleibsel des Patagonischen Eisschilds, das vor rund 20.000 Jahren das ganze Land bedeckte. Majestätisch ragt der 4.058 Meter hohe Gipfel des Cerro San Valentin in den klirrend kalten, klaren Himmel. Fürwahr ein König, keiner überragt ihn am Ende der Welt.

Gewaltig und gewaltiger

Wir wanderten an den einsamen Ufern des grünlich schimmernden Lago Leone. Was will man mehr? Vielleicht noch eine gewaltige Granitformation, die in den See zu fließen scheint? Oder eine noch viel gewaltigere Gletscherwand? Eine, die direkt hinter dieser Naturbühne 60 Meter senkrecht in die Höhe ragt und in ihren Spalten ein betörend blaues Licht zaubert? Vielleicht noch ein Kondor, ruhige Kreise am Himmel ziehend? Es waren sogar zwei.

Anderntags folgten wir den tief in den Stein geschnittenen Canyons des Arroyo San Lorenzo, deren Flanken über die Jahrhunderte ein dichter Urwald überwucherte. Ein Picknick auf gemütlichen 1.000 Höhenmetern bei der alten Holzhütte, die der Erstbesteiger des San Lorenzo, Pater Agostini, im Jahr 1943 in den Wald gezimmert hatte. Hin und wieder riss ein böiger Wind die Wolkenfetzen am Firmament auseinander und gab den Blick auf die schneebedeckten Türme des 3.705 Meter hohen Berges frei.

Irgendwo im nirgendwo

Ein ganz anderes Bild bot dagegen der lieblich dahinfließende Río Ibáñez, der recht wenig Wasser führte. Was das Ganze nur noch surrealer machte. Tausende kahle Baumstümpfe ragen aus einem Flussbett voller Kieselsteine und brauner schlammiger Asche. Letztere stammt aus dem Stratovulkan Hudson, der 2011 das letzte Mal Dampf und Asche spuckte. Der Hydrograf Francisco Hudson Cárdenas stand Pate für den Namen.

Mit dem Namen Hudson sollte man vorsichtig sein in Patagonien. Es gibt derer einige. Henry Hudson, der berühmte britische Seefahrer, nach dem die Hudson-Bucht in Nordamerika benannt wurde, war jedenfalls nie so weit im Süden. Dafür aber William Henry Hudson alias Guillermo Enrique Hudson. Der in Europa kaum bekannte argentinische Nationaldichter wuchs in Patagonien auf, übersiedelte 1874 nach London und litt zeitlebens unter manifestem Heimweh. Er war der erklärte Lieblingsautor von Ernest Hemingway, und Joseph Conrad verehrte ihn im höchsten Maße als seinen Geistes- und Seelenverwandten. Nachvollziehbar. Seine düster melancholischen Liebeserklärungen an die alte Heimat sind unerreicht in ihrer fast schmerzenden Intensität. Nun, zurück in der Gegenwart, harren wir also verloren der Dinge im Schlamm. Irgendwo im nirgendwo, bis auf die Knochen durchweicht und durchgefroren.

Beharrlichkeit der Bilder

Unser Bus steckt fest, und vom Südpolarmeer fegt ein eisiger Wind über die düstere Einöde. Ein Bild, das sich unweigerlich auf ewig ins Gedächtnis fressen sollte. "Die Landschaft machte einen trostlosen Eindruck, aber es war nicht zu leugnen, dass sie lesbare Züge hatte", notierte Hudson einst. "Das war eine Entdeckung – ihr Anblick. Ich dachte: Nirgendwo ist auch ein Ort." Man dürfe nichts suchen dort, nur fühlen und sich davon anrühren lassen, so Hudson. "Die Natur rührt uns in diesen trostlosen Landschaften stärker als in anderen. Darin liegt das Geheimnis der Beharrlichkeit der patagonischen Bilder und ihres häufigen Wiederauftauchens in den Köpfen der Menschen, die diese graue, monotone und in gewisser Hinsicht überaus uninteressante Gegend besucht haben."

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges dazu: "Man findet dort nichts. Es gibt nichts in Patagonien. Deshalb gefiel es Hudson. Man wird feststellen, dass Menschen in seinen Büchern nicht vorkommen." Anderthalb Jahrhunderte zuvor beschäftigte sich schon Darwin mit diesem patagonischen Paradoxon. "Warum hat sich dann, und das geht nicht nur mir so, diese dürre Einöde so tief in mein Gedächtnis eingegraben?"

Blutrote Glocken

Bei der fünftägigen kompletten Umrundung des Massivs Torres del Paine, dem krönenden Abschluss der Trekkingtour, bleibt dem Wanderer viel, viel Zeit, eigene Fragen und Antworten zu finden, mit Klischees zu brechen oder diese zu zementieren.

Auf der leichten Wanderung zum Dickson Lake am Rio Paine zeigt sich Patagonien abermals von seiner lieblicheren Seite. Chilenische Feuerbüsche, dem Rhabarber ähnliche Nalca-Pflanzen und knochige Lenga-Südbuchen säumen die sanften Hügel. Hin und wieder sorgen die leuchtend roten Chilenischen Zwergscheinbeeren oder die blutroten Glocken der Schildblume für Akzente. Ohne ihre Signalfarben würden sie vermutlich einfach untergehen.

Majestätisch im Bett aus Stein

Allzu zimperlich sollte man bei der Königsetappe der Tour nicht sein. Die 900 Höhenmeter bis zum John-Gardner-Pass an sich wären nicht die Herausforderung. Es sind Schnee und Eis, die vor allem den Schwächeren in der Gruppe zu schaffen machen. Schwarze Wolken legen sich bleiern auf Sinn und Verstand, alles versinkt in einem düsteren Grau, und der antarktische Wind geht durch Mark und Bein, ist oben auf dem Kamm kaum zu ertragen. Einen kurzen Moment harrt trotzdem jeder aus. So beeindruckend ist der Blick zurück ins Tal und nach vorn. Uns zu Füßen liegt der Grey-Gletscher majestätisch in einem Bett aus Stein.

Im Windschatten steigen wir bergab. Der Himmel reißt auf und alle düsteren Gedanken sind passé. Wie sagte doch schon Paul Theroux? "Patagonien verheißt ein anderes Klima, einen Stimmungswandel und die vollständige Freiheit des Wanderns." (Marc Vorsatz, RONDO, 14.7.2017)