Burcu Dogramaci / Günther Sandner (Hg.), "Rosa und Anna Schapire – Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900". € 25,70 / 288 Seiten. Aviva, Berlin 2017.

Otto Neurath, Anna Schapire und Rosa Schapire um 1904.

Foto: Nachlass Otto und Marie Neurath, ÖNB

Wissenschafterinnen, Frauen, Jüdinnen: Den Schwestern Rosa und Anna Schapire wurde Anfang des 20. Jahrhunderts der Weg zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit nicht leichtgemacht. Trotzdem konnten beide auf ihrem jeweiligen Gebiet wichtige Arbeit leisten, Rosa Schapire als Kunsthistorikerin und Sammlerin, Anna Schapire als Sozialwissenschafterin – um schließlich doch in Vergessenheit zu geraten. Vor allem der Name Anna Schapire fällt – wenn überhaupt – nur in Zusammenhang mit ihrem Ehemann, dem Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath.

Doppelte Diskriminierung

Die Münchner Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci und der Wiener Politikwissenschafter Günther Sandner haben kürzlich den Sammelband "Rosa und Anna Schapire – Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900" veröffentlicht. Damit wollen sie das Leben und Wirken der Schwestern wieder ans Licht bringen. Wie viele andere Frauen damals bemühten sich auch die aus Brody in Galizien stammenden Schapire-Schwestern trotz der doppelten Diskriminierung als Frauen und Jüdinnen um universitäre Bildung. Ihr Als Feministinnen und vielseitige Intellektuelle sind diese beiden Frauen auch aus heutiger Perspektive besonders interessante Persönlichkeiten, so Günther Sandner in Gespräch mit dem STANDARD.

Die Schwestern mussten ihre Studienorte vor allem danach aussuchen, wo das Frauenstudium überhaupt möglich war. Anna Schapire begann vermutlich als außerordentliche Hörerin ein Studium in Paris an der Sorbonne, und setzte ihre Studien in Wien, Berlin und Bern fort. Ihre Schwester Rosa studierte in Bern und Heidelberg. Obwohl sich ihre Biografien schon früh in unterschiedliche Richtungen entwickelten, waren sie verbunden durch ihre Tätigkeiten als freie Wissenschafterinnen und Übersetzerinnen in prekären Verhältnissen und vor allem in jungen Jahren durch ihr Engagement für den sozialistischen Feminismus.

Sozialistische Feministinnen

"Gleicher Lohn für gleiche Arbeit", forderte Anna Schapire in einem Vortrag 1898 in Hamburg, wo sie seit ihrem 19. Lebensjahr als Handelsgehilfin arbeitete und politisch aktiv wurde. Sobald die Frau ebenbürtige Partnerin des Mannes sei, könne sie "Schulter an Schulter mit dem Manne für bessere Arbeitsbedingungen, für höheren Lohn kämpfen", so Anna Schapire in ihrem Vortrag weiter. Vor allem die Polizeiakten des Hamburger Staatsarchivs bieten umfangreiche Aufzeichnungen über die Aktivitäten der Schwestern, insbesondere über Anna Schapire. Aufgrund ihrer offenen Sympathien für die Sozialdemokratie wurde sie schließlich noch im selben Jahr aus Hamburg ausgewiesen.

Die promovierte Philosophin Anna Schapire äußerte sich bis zu ihrem frühen Tod mit 34 Jahren politisch in Form von Veröffentlichungen, während Rosa Schapire ihre politischen Publikationen mit zunehmendem Alter gänzlich einstellte. Sie wurde fast 80 Jahre alt. Rosa Schapire konnte sich immerhin innerhalb eines künstlerischen und kunstgeschichtlichen Feldes einen Namen machen. Sie stand in engem Kontakt zur expressionistischen Künstlergruppe "Die Brücke" und vor allem zu Karl Schmidt-Rottluff, dessen Druckgrafik auch den größten Teil ihrer umfangreichen Kunstsammlung ausmachte.

Vergessene Einzelkämpferin

Anna Schapire, die trotz ihres kurzen Lebens eine beachtliche Menge an Publikationen produzierte, geriet hingegen gänzlich in Vergessenheit. "Sie war zwar in Netzwerken mit Gleichgesinnten eingebunden, war aber weder Funktionärin in einer wichtigen Organisation noch Redakteurin bei einer Zeitung", so Sandner über die Gründe. Als Freiberuflerin habe ihr – wie auch ihrer Schwester – eine institutionelle Sicherheit und Anbindung gefehlt. "Sie war eine Einzelkämpferin."

Im Verborgenen bleibt bis heute auch Anna Schapires Einfluss auf Otto Neurath. Neurath-Experte Sandner ist überzeugt, dass dieser Einfluss bisher zu gering eingestuft worden ist. Anna Schapire war älter als Otto Neurath. Dieser auch bei vielen anderen intellektuellen Paaren dieser Zeit existierende Altersunterschied lässt sich aus den Verzögerungen und Hürden für Frauen vor und während ihres Studiums erklären. Als Anna Schapire Neurath kennenlernte, hatte sie schon etliche politische und sozialwissenschaftliche Publikationen verfasst, "zu einem Zeitpunkt, als Neurath politisch noch ein völlig unbeschriebenes Blatt war", weiß Sandner. Der Einfluss des einen Partners auf den anderen sei daher viel wahrscheinlicher von Anna Schapire als von Neurath ausgegangen.

Verschwiegene intellektuelle Beziehung

Neurath und die um fünf Jahre ältere Schapire studierten gemeinsam in Berlin, für beide eine wichtige Zeit der politischen Kontakte und Begegnungen. "Auch in dieser Zeit ist der Einfluss von Schapire – auch wenn man ihn nicht vollends nachweisen kann – selbstverständlich", sagt Sandner. Neurath selbst verschwieg diese intellektuelle Beziehung zu seiner Frau weitgehend. Auch die als gemeinsame Übersetzung ausgegebene deutsche Ausgabe von Francis Galtons "Hereditary Genius" im Jahr 1910 stammte offenkundig von Schapire alleine, da Neurath damals noch nicht gut genug Englisch konnte.

Anna Schapire starb 1911, wenige Wochen nachdem sie ihren Sohn zur Welt gebracht hatte, an den unerwarteten Spätfolgen der Geburt. Rosa Schapire musste 1939 nach England emigrieren, wo sie im Jahr 1954 starb. Der Sammelband über Rosa und Anna Schapire erzählt die Biografien zweier außergewöhnlicher Frauen, die sich einem frauenfeindlichen und antisemitischen Zeitgeist entgegenstemmen mussten. Und ihre Geschichte ist wohl nur ein Beispiel unter vielen für die unverhohlene Missachtung der intellektuellen Leistungen von Frauen. (Beate Hausbichler, 26.7.2017)