86 Kerzen bildeten den Kern der Trauerfeiern, die am Freitag in Nizza abgehalten wurden. So viele Todesopfer hatte vor genau einem Jahr die Amokfahrt eines 31-jährigen Tunesiers auf der Promenade des Anglais entlang des Stadtstrandes gefordert. Zehntausende verließen an jenem Abend gerade das lokale Feuerwerk, als der 19 Tonnen schwere Lastwagen in die Menge raste.

"Die Wunde ist noch weit offen", meint heute Emilie Petitjean, die bei dem Anschlag ihren neunjährigen Sohn Romain verloren hat und nun den Opferverein "Promenade des Anges" ("Ange" wie Engel) leitet. Die 340.000 Einwohner von Nizza haben sich bis heute nicht von dem Trauma erholt. Die schillernde Stadt am Mittelmeer, die es einst Nietzsche oder Matisse angetan hatte, "verlor am 14. Juli 2016 proportional mehr Einwohner als New York am 11. September 2001", versucht das Newsportal Atlantico das Leid der mediterranen Metropole an der Côte d'Azur zu beschreiben.

Die Illustrierte Paris-Match versuchte es ihrerseits mit Bildern – furchtbaren, unhaltbaren Fotos von Leichenteilen und überrollten Menschen, erstellt an jenem Abend von Überwachungskameras, bisher unter Verschluss gehalten. Bürgermeister Christian Estrosi verlangte am Donnerstag ein sofortiges Verbot dieser Horrorbilder. Die Justiz lehnte das Gesuch Stunden später knapp ab.

Schmerzhafte Erinnerung

Die Zeitungshändler in Nizza weigern sich trotzdem, Paris-Match zu verkaufen. Zu frisch ist die Erinnerung auch nach einem Jahr noch, zu schmerzhaft die Wunde, die der Anschlag in die glamouröse, lebensfreudige Stadt gerissen hatte.

Bis heute dauert die Polemik an, ob die städtischen oder doch eher die nationalen Polizeibehörden den Zugang zur Promenade zu nachlässig gesperrt hatten. Bis heute ist die Frage unbeantwortet, ob der Attentäter im Auftrag der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gehandelt hatte – der IS beanspruchte später die Urheberschaft des Anschlags für sich – und ob er Komplizen hatte. Neun Personen sitzen aus teilweise ungeklärten Motiven weiterhin in Haft.

Und bis heute fragen sich die Bewohner von Nizza, ob es richtig war, zum ersten Jahrestag auf ein neues Feuerwerk zu verzichten. Gibt man damit den Terroristen nicht indirekt nach, wurde in Leserbriefen gefragt. Sollte man nicht eher handeln nach dem Motto "Jetzt erst recht"?

Nein, zu diesem Wiederholungsakt war Nizza noch nicht bereit. Aber zeigen wollte die Stadt doch, dass sie sich nicht unterkriegen lässt. Zu dem so besonderen Nationalfeiertag treffen sich die Opferangehörigen am Freitag zuerst zu einem interreligiösen Gottesdienst. Wehrhaft organisiert die Stadt sodann eine eigene "Truppenparade" aus Polizei, Feuerwehr und Ambulanzdiensten. Bei einer symbolischen Publikumsaktion wurde eine riesige Straßeninschrift nach der französischen Devise "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" gebildet. Später waren klassische Konzerte geplant.

Auch Staatspräsident Emmanuel Macron kam am Abend nach Nizza. Noch am Vormittag hatte er in Paris neben seinem US-amerikanischen Ehrengast Donald Trump die Militärparade des "Quatorze Juillet" abgenommen. Unter den 3700 Soldatinnen und Soldaten waren auch 145 Amerikaner in Uniformen des Ersten Weltkriegs – eine Hommage an den Kriegseintritt der USA an der Seite Frankreichs vor hundert Jahren.

Macron würdigte die USA als "sichere Verbündete" einer "unvergänglichen Freundschaft", um dann schließlich auszurufen: "Nichts wird uns jemals trennen!" Das klang fast beschwörend, nachdem Macron am Tag zuvor selber die "Uneinigkeit" in der Klimapolitik festgestellt hatte.

Keine Wellen

Am Vorabend hatten in Paris nur einige Dutzend Trump-Gegner gegen die Einladung für den US-Präsidenten protestiert – bedeutend weniger als letzthin in London oder Hamburg. Selbst die linke Zeitung Libération begrüßte Macrons "Versuch, Trump von seinem isolationistischen Kurs abzubringen".

Keinerlei Wellen warf in Paris übrigens die Bemerkung des amerikanischen Präsidenten Trump an die Adresse der französischen Präsidentengattin Brigitte Macron, sie sei "gut in Schuss" ("in good shape"). Das durch eine vielsagende Handbewegung abgerundete Kompliment wurde in amerikanischen und deutschsprachigen Medien als "sexistisch" bezeichnet – in Frankreich ging es hingegen völlig unter; sei es, weil die Staatsräson Trump zum Nationalfeiertag verschonte, sei es, weil auch die Pariser Galanterie nicht immer lupenrein ist. (Stefan Brändle aus Paris, 14.7.2017)