"Lernt von Leuten aus anderen Ländern. Und redet miteinander, viel: Timothy Snyder.

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Milton Mayer, "They Thought They Were Free: The Germans, 1933-45". € 17,20 / 368 Seiten. Zweite, durchgesehene Auflage. University of Chicago Press, Chicago 2013. Kindle-Edition auf amazon.uk

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Timothy Snyder, "Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand". € 10,30 / 127 Seiten. Beck, München 2017

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Der autoritäre Pfad ist ein Lernprogramm aus Ungarn, Polen und auch anderswo. Der erste Schritt besteht darin, gegen Minderheiten zu mobilisieren. Das können Flüchtlinge sein, oder Roma, jedenfalls Gruppen, die sich gut dazu eignen, zu den "Anderen" gemacht zu werden. "Othering" nennt diesen Vorgang die Forschung. Das Böse kommt von außen, das ist die Grundfigur.

In Schritt zwei werden Armutsbetroffene schikaniert. Obdachlose in Budapest, Mindestsicherungsbezieher hier, Arbeitslose dort. Für diejenigen ganz unten auf der Leiter werden soziale Grundrechte außer Kraft gesetzt oder umgangen. Schritt drei auf dem autoritären Pfad heißt Demonstrationsrecht einschränken und Höchstgerichte aushebeln. Das kennen wir aus Polen, aber auch aus Spanien nach den Protesten gegen Sozialeinschnitte infolge der Finanzkrise.

Der nächste Schritt, Nummer vier, nimmt die NGOs und die Zivilgesellschaft ins Visier und versucht sie zu denunzieren und zu schwächen. Das ist ein durchgehendes Muster aus Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei. Im fünften Schritt werden dann kritische Journalisten unter Druck gesetzt.

"Jeder Schritt war so winzig, so belanglos, so plausibel gerechtfertigt, dass auf täglicher Basis niemand verstand, was das Ganze im Prinzip bedeuten sollte und wohin all diese ,winzigen Maßnahmen' eines Tages führen würden." Das schrieb Milton Mayer in seiner Studie über Erfahrungen von Leuten der 1930er-Jahre in Deutschland. Und weiter: "Auf täglicher Basis verstand es keiner, genau so wenig wie ein Bauer in seinem Feld sein Getreide von einem Tag auf den nächsten wachsen sieht. Jede Handlung ist aber schlimmer als die letzte, doch nur ein wenig schlimmer."

Hass und Furcht

Mayers Untersuchung durchziehen gespenstische Beobachtungen und genaue Alltagsbeschreibungen: "Die äußerlichen Formen sind alle vorhanden, alle unberührt, alle beruhigend: die Häuser, die Geschäfte, die Mahlzeiten, die Besuche, die Konzerte, das Kino, die Ferien. Nun lebst du in einer Welt bestehend aus Hass und Furcht, und die Leute, die hassen und fürchten, wissen nicht einmal selbst, dass, wenn jeder transformiert ist, keiner transformiert ist. Du hast Dinge akzeptiert, die du vor fünf Jahren nicht akzeptiert hättest, oder vor einem Jahr."

Leistet keinen vorauseilenden Gehorsam. Verteidigt Institutionen. Recherchiert. Lernt von Leuten aus anderen Ländern. Und redet miteinander, viel.

Das sind einige der zwanzig Grundsätze, die Timothy Snyder in seinem Büchlein Über Tyrannei anführt. Der Professor für Geschichte an der Yale-Universität beobachtet die autoritären Pfade berufsmäßig. Seine Hosentaschenschrift liest sich wie der Beipacktext eines Medikaments, das Bürger als Gegengift im Alltag immer parat haben sollten. Durchatmen. Nicht treiben lassen. "Jede Story ist ,breaking', bis sie durch die nächste ersetzt wird. Wir werden durch die Welle getroffen, aber sehen nie das Meer", beschreibt Snyder die Hysterie-Falle, in die autoritäre Politiken uns treiben.

Oder: "Terror-Management", das ist der älteste aller Tricks. Putin hebelte jeweils nach Terrorattacken 1999, 2002 und 2004 Institutionen der Demokratie aus, und zwar immer genau in den Wochen danach.

Identitärer Vorkrieg

Wir oder sie. Im identitären Vorkrieg gibt es nur ein Entweder-oder. Der Identitäre sieht sich und sein aufgeblasenes Selbst immer knapp vor der Vernichtung, dafür gibt es stets ein ausgewähltes Trauma der Vergangenheit: Die Nationalsozialisten nahmen Versailles, Milosevic die 600 Jahre zurückliegende Schlacht auf dem Amselfeld, Orbán das Vertragswerk von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg und so weiter. Wenn sich in der Vergangenheit keine geeignete Vernichtungsdrohung für das Kollektiv findet, kann man sie auch in die Zukunft entwerfen.

Orbán betreibt einen sichtbaren Kampf gegen das europäische "Ausland", gegen bedrohliche "innere Feinde" und gegen die kritischen Teile der Zivilgesellschaft. Kritisierte man Orbán dafür, würde er sich sofort zum Opfer "aus- ländischer Kreise" und "innerer Vaterlandsverräter" machen. So funktioniert der Opferkult der Mächtigen.

Es ist ein Merkmal autoritärer Persönlichkeiten, dass sie Kritik als Beleidigung werten. Beleidigt sein ist überhaupt der liebste Seinszustand autoritärer Nationalstaaten. Ob Orbán in Ungarn, Kaczynski in Polen, Erdogan in der Türkei: Kritik heißt immer "Beleidigung des Volkes". Am autoritären Pfad trifft sich der Opfernarzissmus mit dem Größenwahn. (Martin Schenk, 15.7.2017)