Ex-Landeshauptmann Pühringer (Oberösterreich), Landeshauptmann Häupl (Wien) und Ex-Landeshauptmann Pröll (Niederösterreich) im Jänner 2017 in Graz.

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In Österreich wisse man am Ende nicht, wer zuständig war, sagt der Politologe Renzsch: "Wenn es schiefgeht, war es der andere – oder Brüssel."

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STANDARD: Legt man den österreichischen Maßstab auf die deutsche Einwohnerzahl um, dann hätte die Bundesrepublik 85 statt nur 16 Bundesländer. Sehen Sie einen Sinn, warum ein kleines Land wie Österreich neun Länder braucht?

Renzsch: Ja, den sehe ich. Selbst in Staaten wie Österreich und Deutschland, die homogener sind als etwa die Schweiz, gibt es regionale Identitäten, die es zu bewahren gilt. Die Tiroler sind genauso wenig Kärntner, wie die Saarländer Berliner sind – und die Menschen wollen Anliegen dezentral und bürgernah vortragen: von der Autozulassung bis zur Schule. Es hat Vorteile, wenn die Kirche im Dorf bleibt. Außerdem haben beide Staaten schlechte Erfahrungen mit zentralisierter Macht. Die eingebauten "checks and balances" sollte man bewahren.

STANDARD: Für Bürgernähe sind ja eh die Gemeinden da. Braucht es im Zeitalter des Internets da auch noch die Länder?

Renzsch: Ich habe in Deutschland im großen Nordrhein-Westfalen ebenso gelebt wie in kleinen Ländern wie Sachsen-Anhalt. Letztere haben den großen Vorteil, dass man kürzere Wege hat, dass man sich kennt. In Nordrhein-Westfalen mit 17 Millionen Einwohnern hingegen war der Weg zu den Verwaltungen recht lang. Zentralisiert man die gesamte Verwaltung in einer Metropole wie Wien, dann entsteht eine große Bürgerferne. Auch für Wirtschaftsförderung gilt: Vor Ort weiß man einfach besser, was sinnvoll ist.

STANDARD: Aber braucht es dazu Landtage, die eigene Gesetze beschließen?

Renzsch: Es ist dringend nötig, über die Rolle von Landtagen neu nachzudenken. Tatsächlich ist die Gesetzgebung nicht mehr so bedeutend, dass man professionelle Vollzeitparlamentarier braucht. Allerdings haben sich die Landtage aber auch andere Tätigkeitsbereiche erobert: Ein ganz wichtiger Bereich, in dem diese mitdiskutieren, ist die Europapolitik.

STANDARD: Das klingt aber eher nach Beschäftigungstherapie. Hat das irgendwelche Folgen, was Landtage dazu sagen?

Renzsch: Ja – und zwar insofern, als die Landesregierung das aufnimmt. Für die Länder sind die Kontakte nach Brüssel außerordentlich wichtig, alle haben eine Vertretung dort. Reden Sie einmal in Magdeburg mit den Beamten: Die erzählen Ihnen, dass Brüssel besser über die Probleme von Sachsen-Anhalt als strukturschwacher Region informiert ist als das Wirtschaftsministerium in Berlin. Sachsen-Anhalt bekam zuletzt an Strukturmitteln genauso viel aus Brüssel wie von den anderen deutschen Ländern. Die Landtage haben die Regierungen zu kontrollieren, wie dieses Geld eingesetzt wird, das ist eine wichtige Aufgabe. Aber die Abgeordneten müssten das, was geschieht, kompetent kommunizieren. Daran mangelt es leider vielfach.

STANDARD: Der Föderalismus führt in Österreich aber zu Blockaden. Eine bundesweit einheitliche Mindestsicherung ist deshalb gescheitert, weil sich die neun von verschiedenen Parteien regierten Länder nicht einigen konnten. Lähmt das nicht die Politik?

Renzsch: Natürlich kann Föderalismus zu Blockaden führen, diese Gefahr ist sicherlich ein Nachteil: Föderale Staaten sind langsamer in ihren Entscheidungsprozessen – nicht umsonst spricht man im Fall der Schweiz von der helvetischen Verzögerung. In einer Konsensdemokratie müssen Sie so lange verhandeln, bis alle mitmachen. Das extreme Gegenteil ist Großbritannien, wo der Premierminister für vier Jahre quasi unbeschränkt regieren kann.

STANDARD: Ist das nicht besser so?

Renzsch: Das ist eine Abwägungssache. In Großbritannien haben Sie dafür mitunter einen politischen Zickzackkurs, die Schweiz ist viel kontinuierlicher. Reformen sind sehr viel schwieriger, doch dafür werden in föderalen Systemen die verschiedenen Akteure mitgenommen. Es kommt zu Lösungen, die im Endeffekt alle unterschrieben haben. Diese Integrationsleistung darf man nicht unterschätzen.

STANDARD: Was ist die Schwäche des österreichischen Systems?

Renzsch: Die gleiche wie in Deutschland: das Überlappen der Kompetenzen. Die Verantwortlichkeiten sind schwer eindeutig zuzuordnen, Sie wissen am Ende nicht, wer zuständig war: der Bundesgesetzgeber oder die Landesverwaltung. Das lädt dazu ein, Verantwortung abzuschieben: Wenn es gut ausgeht, war man es selbst. Wenn es schiefgeht, war es der andere – oder Brüssel.

STANDARD: Die SPÖ hat die Entflechtung der Kompetenzen sogar zur Koalitionsbedingung erklärt.

Renzsch: Da bin ich gespannt, was dabei rauskommt. Dieser Versuch ist überall gescheitert. Denken Sie an den Österreich-Konvent oder an die Föderalismusreform in Deutschland: Der Berg hat gekreißt, ein Mäuschen kam heraus.

STANDARD: Wundert Sie das?

Renzsch: Nein, das wundert mich gar nicht. Es ist ja niemand bereit, etwas abzugeben. Das funktioniert nur, wenn der Bund zusätzliches Geld zum Verteilen hat und so den Ländern etwas abkaufen kann. Ansonsten sind das Nullsummenspiele. In Deutschland kam beim letzten Versuch sogar das Gegenteil des Erhofften heraus: Die Verflechtungen wurden am Ende noch komplizierter.

STANDARD: Eine weitere Kritik am Förderalismus: Die Länder geben Geld aus, das sie nicht selbst einheben – das verleite zum Verschwenden. Österreichs Finanzminister will diesen deshalb mehr Möglichkeiten geben, eigene Steuern einzuheben. Eine gute Idee?

Renzsch: Nein. In einem System, in dem der Bund den größten Teil der Gesetze definiert, sollte dieser auch über die Ressourcen verfügen. Den Ländern zu sagen, wir schreiben euch vor, was ihr zu machen habt, und ihr seht dann zu, wie ihr euer Geld dafür herkriegt, wird nicht funktionieren. Die Länder haben unterschiedliche Steuerkraft. Die Autonomie würde dazu führen, dass starke Länder die Steuern senken könnten, während schwache das Gegenteil tun müssen, um ihre Aufgaben zu finanzieren. Das würde zu Abwanderung und einer weiteren Schwächung führen. In Deutschland wurde das einmal durchgerechnet: Würde eine Autonomie den Finanzausgleich ersetzen, müssten die ostdeutschen Länder Steuerzuschläge von 80 Prozent einheben. Das wäre tödlich.

STANDARD: Die in Österreich diskutierten Vorschlägen sehen weiterhin einen Finanzausgleich zur Stützung schwächerer Länder vor.

Renzsch: Wenn Sie einen für alle auskömmlichen Finanzausgleich machen und sagen, on top haben die Länder noch etwas Spielraum, dann kann eine begrenzte Autonomie sinnvoll sein. Aber in der Schweiz sieht man, was Steuerautonomie mit sich bringt: einen noch komplizierteren Finanzausgleich und eine rigide Überwachung, um Betrug zu verhindern. Steht ein Auto mit einem Kennzeichen eines Kantons mit niedrigen Steuern länger vor einem Haus in einem anderen, weniger günstigen Kanton, wird die Finanzpolizei rasch aufmerksam. Denn dann liegt der Verdacht vor, dass jemand an einem anderen Ort versteuert, als er eigentlich wohnt. In der Schweiz funktioniert das System, doch ich bezweifle, ob das alles so übertragbar ist: Das ist auch eine Frage der Tradition. (Gerald John, 16.7.2017)