Der neue Jedermann Tobias Moretti: "Diese bürgerliche Vorstellung, wie die Buhlschaft zu sein habe oder welchem Bild oder Klischee sie zu entsprechen hätte, ist mir einfach auf den Sack gegangen."

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STANDARD: Sie haben zweimal abgelehnt, den Jedermann zu spielen. Warum haben Sie jetzt zugesagt?

Moretti: Das Thema der neuen Festspiel-Intendanz "Der Aufbruch ins Nichts", ein Kaleidoskop des beginnenden 20. Jahrhunderts – das hat mich interessiert, und in dem Zusammenhang der Jedermann als Figur.

STANDARD: Als Sie zusagten, hießen die Regisseure noch Julian Crouch und Brian Mertes. Wollten Sie deren Ablöse?

Moretti: Nein, das wollten wir alle eigentlich nicht. Aber wir wollten an einer Interpretation arbeiten, die die Figur aus dem Deklamationszwang löst und diese Allegorie konkretisieren kann. Das Stück hat sich in einer tradierten und letztlich einengenden Sichtweise verselbstständigt. Also sind wir als erste Tat nach meiner Zusage nach New York geflogen, weil ich mich mit den beiden darüber unterhalten wollte, was ich mir unter "Interpretation" vorstelle, was mich an dem Stück mehr und was weniger fasziniert. Es gab auch noch ein Treffen bei mir zu Hause, um noch einmal alles zu konkretisieren. Dabei hat sich abgezeichnet, was sich dann heuer im Frühjahr bestätigt hat, dass die beiden eigentlich gar nichts ändern wollten, wie sie meinten, aus Angst um die Statik ihrer Inszenierung. Im deutschsprachigen Theater ist es ja gängig, dass Inszenierungen im Fluss bleiben, gerade bei Umbesetzungen; im angelsächsischen Raum ist das wohl anders.

STANDARD: Was war Ihnen bei einer neuen Interpretation besonders wichtig?

Moretti: Zunächst, welches Verhältnis die einzelnen Figuren zueinander und zum Jedermann haben. Und natürlich, was das Glaubensthema bedeutet. Wie harmlos dieses zentrale Thema meist behandelt wurde, zeigt sich daran, dass sogar Leute wie Herr Ratzinger, also mehr als konservative Zeitgenossen, gefragt haben: "Was hat der denn getan? Eine Freundin hatte er, und gut leben wollte er." Warum muss deshalb der Höllenofen angezündet werden? Viel kann man ja nicht rühren am Konstrukt dieses Werkes, aber irgendwas geht immer – zumindest was die Nachvollziehbarkeit betrifft.

STANDARD: Was sind für Sie die zentralen Themen, die zentralen Figuren?

Moretti: Das Stück hat mehrere zentrale Themen, die Figuren sind ja alles Allegorien, jede steht für sich. Wie sich die Figuren verschränken und zueinander stehen, kann man ja mal nicht nur in der Behauptung bearbeiten, sondern vielleicht mit einem Zugang, wie man auch an andere Theaterstücke herangeht und an konkrete Figuren: der Tod, der Mammon, die Werke, der Arme Nachbar, und natürlich auch die Buhle.

STANDARD: Gab es mit Crouch und Mertes neben den interpretatorischen auch sprachliche Probleme?

Moretti: Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltliche, abgesehen davon, dass die Hofmannsthal'sche Kunstsprache schon einen Muttersprachler vor Interpretationsprobleme stellt. Für jemanden, der gar nicht Deutsch spricht, bleibt die Auseinandersetzung mit der Sprache an der Hülle hängen. Vor allem bei den neuralgischen Punkten Hybris und Erkenntnis. Ich muss doch aus einer Erkenntnis heraus agieren und nicht aus Angst vor dem Sterben. Sonst habe ich ja völlig umsonst gelebt. Damit habe ich auch textlich gearbeitet, gerade das war mir wichtig.

STANDARD: Habe ich Sie richtig verstanden: Sie haben den "Jedermann" textlich bearbeitet, sprich: stellenweise neu geschrieben?

Moretti: Wir haben uns für die Hofmannsthal'sche Originalfassung entschieden, diese allerdings an bestimmten Stellen einem zeitgenössischen Blick unterworfen. Sonst kommt man irgendwann aus diesem ideologischen Korsett nicht mehr heraus. Das ist ein mehr als üblicher Vorgang, auch im Umgang mit deutschen Klassikern. Ich finde, dass der "Jedermann" in vielen Momenten gut gebaut ist – und in manchen eben nicht. Da muss ich mich thematisch und sprachlich damit auseinandersetzen – aber natürlich immer in Bezug auf Hofmannsthal, in Bezug darauf, was das Genie Hofmannsthal sonst noch geschrieben hat, auf literarische Vorgaben wie zum Beispiel die hochpoetischen Terzinen über Vergänglichkeit.

STANDARD: Beschäftigen Sie sich, auch beim Film oder Fernsehen, mit allen Rollen so intensiv?

Moretti: Mehr oder weniger ja, sonst könnte ich es nicht machen. Ich bin auch langsam, kein multipler Arbeiter. Ich kann nur eins nach dem anderen machen, sonst käme ich mir sehr zerrissen vor. Manchmal, in den profanen Aspekten meines Lebens, kann ich vielleicht ganz schön an der Oberfläche herumsurfen, aber nicht in den Bereichen, die meine Arbeit betreffen.

STANDARD: Waren Sie in die Wahl Michael Sturmingers als Regisseur involviert?

Moretti: Das letzte Gespräch mit Crouch hier in Salzburg war ein Neun-Stunden-Marathon im März. Es sah so aus, als gäbe es einen Kompromiss, aber dann eben doch nicht. Sturminger inszenierte damals gerade in Salzburg "Lohengrin" von Sciarrino. Bettina Hering hat mich gefragt, was ich von ihm hielte. Ich kannte ihn, habe aber noch nicht mit ihm gearbeitet. Der thematische Austausch, aus derselben Sprachkultur heraus, war erfrischend, auch seine – auch familiäre – Nähe zu dieser österreichisch-wienerischen Kulturepoche.

STANDARD: Sie haben vorher gesagt, es gebe Dinge, die Sie am "Jedermann" weniger faszinierend finden. Welche?

Moretti: Wenn man die frühen Werke Hofmannsthals liest, wundert man sich über sein klischeehaftes Schwarz-Weiß-Denken in Glaubensfragen im "Jedermann". Vielleicht hängt das damit zusammen, dass er in dritter Generation konvertiert und so brav katholisch war. Aber das kann man anders interpretieren, allgemeingültiger, wenn man von der Essenz des Stückes etwas in unsere Zeit hinüberretten will.

STANDARD: Das Stück heißt zwar im Untertitel "Vom Sterben des reichen Mannes". Aber geht es nicht eher um sein Leben?

Moretti: Das sehe ich auch so. Die Werke beispielsweise sind der Spiegel des eigenen Ichs, also das, was die Taufe eigentlich sein sollte: der Konjunktiv dessen, was man hätte tun können als Mensch – und es nicht getan hat. Damit, mit der Selbsterkenntnis im Augenblick des Todes, umzugehen interessiert mich. Es kann nicht sein – und damit gebe ich mich auch nicht zufrieden –, dass die Werke sagen: "Wenn du nur brav dein Vaterunser betest, dann wirst du erlöst." Im Spiegel, den einem die Werke vorhalten, erkennt man die eigene Zerrissenheit, wie sehr man sich zerrieben hat in dieser Welt und wie sehr man am Eigentlichen vorbeigelebt hat. Darüber erzählt das Stück: über Erkenntnis und Nichterkenntnis.

STANDARD: Sind Sie gläubig?

Moretti: Ja. Genauso wie ich auch kritisch oder agnostisch bin. Es ist ein Sich-Einlassen, eine Schnittmenge zwischen Glauben und Nichtglauben. In jedem Fall bin ich froh, in diesem Kulturkreis aufgewachsen zu sein, mit diesem Fundus, dieser Zerrissenheit, die unsere Geschichte geprägt, gezeichnet, zerrieben hat. Ich bin bei den Jesuiten in die Schule gegangen. Das sind ja auch Menschen, die mit sich ins Gericht gehen. Das ist mein Zugang, bis heute.

STANDARD: Sie haben von 2002 bis 2005 den Guten Gesell und den Teufel gespielt, jetzt werden die beiden Rollen auch wieder von nur einem Schauspieler verkörpert.

Moretti: Der Mensch holt sich doch den Teufel als besten Freund. Noch bevor ich über meine Figur nachgedacht habe, war mir das ein wichtiger Aspekt. Damit schließt sich der Kreis, jede der Allegorien ist tatsächlich ein Teil vom Jedermann. So wie beispielsweise auch die Figur des Armen Nachbarn. Vor dem Herumgepoltere und Gezerre hatte ich schon Angst beim Lesen: Herumschreiend hindert er den Jedermann am Weiterkommen. Dass man diese Situation einmal ernst nimmt und anders erzählt, ist wunderbar. Dafür bin ich nicht nur Roland Renner, sondern auch Bettina Hering dankbar, dass man so eine Figur so besetzt bekommt. Dasselbe gilt natürlich auch für die Mutter, die zu einer meiner Lieblingsszenen geworden ist.

STANDARD: Sie haben sich auch Stefanie Reinsperger als Ihre Buhlschaft gewünscht. Warum?

Moretti: Diese bürgerliche Vorstellung, wie die Buhlschaft zu sein habe oder welchem Bild oder Klischee sie zu entsprechen hätte, ist mir einfach auf den Sack gegangen. Hofmannsthal und Reinhardt haben die Buhlschaft einerseits als Muse à la Alma Mahler gesehen, andererseits als das reine, unschuldige Mädchen – beides eine Männerfantasie. Bei "Hoffmanns Erzählungen" von Offenbach gibt es einen ganzen Reigen dieser Frauenfiguren, und nicht nur dort. Nach unserer Vorstellung muss die Buhlschaft eine andere Intensität zum Jedermann entwickeln, vielleicht sogar eine Nähe. Es gibt ja auch eine Erotik der Intimität. Mit der Reinsperger gibt’s so eine herrliche Frische, die mir die Proben schon so wert machen.

STANDARD: Was für ein Typ Mann ist der Jedermann?

Moretti: Das kann man nicht so profan beantworten, man muss ihn auch nicht in die heutige Zeit hinein trivialisieren. Natürlich ist er der Prototyp eines hybriden und uns heute sehr bekannten Typs Mann. Aber er hat eine Allgemeingültigkeit, über die geschlechtliche Zuordnung hinaus, für den Zustand des Hier und Jetzt des Menschen an sich. (Andrea Schurian, 15.7.2017)