Der nach der Ankündigung entstandene Hype um die Datenbrille Google Glass währte nicht lange. Was ein nützlicher Alltagsbegleiter mit Kamerafunktion hätte werden sollen, wurde stattdessen zu einem Grund, aus Bars und Lokalen im Silicon Valley geworfen zu werden. Während die Early Adopter selbst kaum praktischen Nutzen an ihrem Gadget finden konnten, mussten sie sich stattdessen als "Glasshole" beschimpfen lassen.

Als Consumer-Produkt ist die Brille – jedenfalls vorläufig – gescheitert. Klarer konnte das Eingeständnis in Form der Vorstellung von Google Glass 2.0, der "Enterprise Edition", nicht sein. Statt in Wohnzimmern, Pubs und Parks ist die Augmented-Reality-Brille nun in Labors, Fabriken und Arztpraxen daheim. Getestet wurde sie dort, unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, aber schon seit zwei Jahren, berichtet Wired.

Glass at Work

Der Ursprung der zweiten Chance für Google Glass lässt sich vor 2014 verorten. Während immer deutlicher wurde, dass die Brille im Privatumfeld zum Scheitern verdammt war, waren einige Unternehmen dazu übergegangen, sie speziell an verschiedene Arbeitsumfelder anzupassen. Google erkannte darin Potenzial und initiierte 2014 das "Glass at Work"-Programm.

Im selben Jahr besuchten Google-Mitarbeiter den Flugzeughersteller Boeing, wo die Brille erprobt wurde. Der Effizienz-Unterschied zwischen Glass-Nutzern und ihren Kollegen bei bestimmten Aufgaben sei enorm gewesen. Erfahrungen wie diese führten bei Google schließlich zur Entscheidung, eine neue Version von Glass zu entwickeln, die nichts mit der ersten Generation für Consumer zu tun hat.

2015 gingen beim "Explorer"-Programm schließlich die Lichter aus. In den Augen der Öffentlichkeit galt das Projekt als tot, auch wenn die Homepage ankündigte, dass man noch nicht am Ende des Weges war.

Boeing und Upskill kooperieren beim Einsatz von Google Glass in der Flugzeugfertigung.
Upskill

Rückkehr in die Brutstätte

Intern kehrte Glass allerdings schon vorher zurück in die X Labs, Googles Abteilung für technologisch besonders ambitionierte Projekte. Dort nahm sich der Top-Ingenieur Ivo Stivoric der Weiterentwicklung an, der bereits 20 Jahre Erfahrung im Bereich der Wearables mitbrachte. Man entwickelte ein Ökosystem, in das sich alle Anbieter einklinken konnten, die bereits damit befasst waren, Glass für unterschiedliche Zwecke anzupassen.

Außerdem entwarf man eine erneuerte Version von Glass mit besserer Hardware, die bereits Anfang 2015 an erste Partner ausgeliefert wurde. Sie kann nun auch mit optischen Brillen umgehen und es gibt auch eigens angefertigte Schutzbrillen, auf welchen sich die Elektronik befestigen lässt, was für die Arbeit in Fabriken oft unabdingbar ist.

Daneben steigerte man die Akkulaufzeit, sodass sich Glass nun auch durchgehend in einer Acht-Stunden-Schicht verwenden lässt. Es gibt nun einen schnelleren Prozessor und ein besseres WLAN-Modul. Die Kamera arbeitet nun mit acht statt fünf Megapixel. Und ein grünes Licht informiert Mitmenschen nun darüber, wenn ein Video aufgenommen wird.

Datenbrille statt Laptop

Als Beispiel für den Einsatz der "Enterprise Edition" nennt Wired den Konzern AGCO, wo Landwirtschaftsgeräte hergestellt werden. In der Fertigung der Traktoren sind rund 850 Leute tätig, Weil viele der Maschinen oft nach Kundenwunsch gebaut werden, verfügt jede Abteilung über spezialisierte Aufgabenbereiche.

Um die Produktion der einzelnen Fahrzeuge zu koordinieren, setzte man bisher auf Laptops. Für deren Bedienung müssen Mitarbeiter allerdings ihren aktuellen Arbeitsplatz verlassen und rund 15 Meter zu einer entsprechenden Station gehen. Ist der dortige Rechner gerade in Verwendung, muss ein anderer gefunden werden. Ein mühsamer Prozess, den man mit dem Einsatz von Tablets verbessern wollte. Doch die Geräte erwiesen sich als nicht haltbar genug, für die Bedingungen in den Werkshallen.

Schließlich schaffte man eine "Explorer"-Version von Google Glass an. Erste Tests verliefen vielversprechend. Nach einiger Suche fand man im belgischen Unternehmen Proceedix auch einen Partner, der anbot, die Google-Brillen gemäß den Vorstellungen von AGCO anzupassen. Monate später lieferten weitere Probeläufe extrem hohe Steigerungen in puncto Arbeitseffizienz.

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Schritt für Schritt durch den Arbeitsprozess

Eine typische Arbeitstätigkeit bei AGCO dauert rund 70 Minuten und teilt sich in einzelne Schritte von drei bis fünf Minuten auf. Der Arbeiter sieht auf seinem Glass-Display eine Anweisung, die erklärt, was zu tun ist. Ist er mit dem aktuellen Schritt fertig, kann er im Menü oder per Sprachanweisung "Okay Glass, proceed" weiter schalten.

Auf Wunsch kann die Brille genau anzeigen, welche Komponente wo montiert wird, welche Schrauben in welcher Größe verwendet werden müssen oder welches Werkzeug zum Einsatz kommt. Sieht ein Teil beschädigt aus, kann man ein Foto schießen und an einen Verantwortlichen schicken. Ebenso lässt sich mit der Glass kurzfristig Hilfe anfordern.

Vom "Glasshole"-Feature zum wichtigen Werkzeug

Am Anfang gab es Skepsis gegenüber den Augmented-Reality-Brillen. Neben Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre zweifelten insbesondere ältere Mitarbeiter an den Vorteilen der Geräte. Mittlerweile sei Google Glass als Bestandteil des Arbeitsalltags akzeptiert, so ein für die Arbeitsplatzverbesserungen zuständiger Manager. Über 100 Datenbrillen sind bei AGCO mittlerweile im Einsatz, in den nächsten anderthalb Jahren sollen weitere 500 bis 1.000 Stück zugekauft werden.

Ähnlich positive Rückmeldungen gibt es auch von anderen Firmen, die die "Enterprise Edition" testen. Die Bandbreite reicht dabei vom Gerätehersteller General Electric bis hin zu privaten Gesundheitsversorgern wie Dignity Health. Gerade im medizinischen Bereich seien es ausgerechnet die einst heiß umstrittenen Aufnahmefunktionen, die einen Fortschritt im Sinne der Patienten darstellen würden. Während ein Arzt mit einem Patienten spricht, kümmern sich Mitarbeiter des Partnerunternehmens Augmedix darum, das Protokoll anzufertigen.

Foto: Google

Aus dem Datenbestand erhält der Doktor zudem auch Hinweise auf Dinge, die zu besprechen sind. Den Medizinern werde auf diesem Wege so viele Zusatzaufgaben abgenommen, dass der Anteil an direkter Interaktion mit Patienten an ihrer Arbeit sich von 35 auf 70 Prozent verdoppelt hat. In der Arbeitswelt ist Glass ein Werkzeug und kein Spielzeug, sagt dazu der Manager für medizinisches Informationsmanagement, Davin Lundquist. Es funktioniere, weil die Brille ausschließlich nur das tue, was für den Job erforderlich sei. Es gibt keine Ablenkung durch Facebook, Twitter oder nervende Benachrichtigungen.

Consumer-Rückkehr nicht ausgeschlossen

Ein Erfolg im professionellen Umfeld könnte Google Glass freilich auch zu einer Wiederkehr auf den Consumer-Markt verhelfen. Ein Szenario, zu dem man sich in den X Labs allerdings schweigsam gibt. "Niemand von uns hat den Gedanken aufgegeben, dass Glass mit der Zeit weniger störend wird und immer mehr Menschen es verwenden", heißt es vage. Man wolle aber nicht vorab darüber urteilen, in welche Richtung es gehe – denn das sei schon einmal daneben gegangen. (red, 19.07.2017)