Während die umstrittene Justizreform debattiert wurde, gingen am Mittwochabend erneut Tausende dagegen auf die Straße. Die Kundgebung dauerte bis nach Mitternacht.

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Frans Timmermans hat zum Problem von EU-Rechtsverletzungen, Verfassungsbrüchen bis hin zur Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die polnische Regierung schon viele Pressekonferenzen gegeben. Aber keine in den bald zwei Jahren des Konflikts fiel von der Wortwahl her so ernst, so dramatisch, fast flehentlich aus wie am Mittwoch in Brüssel nach der Sitzung des Kollegiums der EU-Kommissare.

Timmermans ist als Vizepräsident nicht nur für die Einhaltung der Grundrechte in der Union zuständig. Er muss sehen, dass die "Herzstücke" der Gemeinschaft – Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz, absolute Gültigkeit des Rechts vor politischer Willkür, Freiheit – bewahrt werden.

Verlass auf unabhängige Justiz nötig

Diese gelten nicht nur für Polen, sondern universell für alle EU-Bürger, ob sie sich inner- und außerhalb Polens bewegten. Jeder müsse sich darauf verlassen können, dass die Justiz unabhängig sei, dass "der Rechtsstaat funktioniert", dass polnische Richter nicht von politischer Macht missbraucht werden, erklärte der Sozialdemokrat aus den Niederlanden. Im Verlauf seiner Ausführungen wird bald klar, dass es im Fall Polens inzwischen nicht mehr "nur um juristische Details" gehe. Die Regierung in Warschau riskiere mit der Justizreform und Gesetzesvorhaben zur Regelung des Obersten Gerichtshofes erneut ein Vertragsverletzungsverfahren.

Eines hat die Kommission wegen Angriffen auf die Unabhängigkeit der Justiz – beginnend beim Verfassungsgerichtshof – bereits 2016 eingeleitet. Die Kommission habe nur deshalb nicht schon über "Verfahren" entscheiden können, weil die schriftliche Ausführung noch nicht vorliege, referierte Timmermans. Eine Entscheidung falle nächste Woche.

Aber das ist noch nicht alles. Man sei auch "ganz nahe an der Einleitung des Artikel-7-Verfahrens", so Timmermans – "very close", kurz davor, wiederholt er. Unter Juristen gilt dieses Verfahren, erst 2009 mit dem EU-Vertrag von Lissabon eingeführt, als eine Art "juristische Atombombe" gegen ein Land: Es sieht am Ende den Entzug der Stimmrechte in EU-Gremien vor, quasi eine Entmündigung, eine Demütigung.

Bis es dazu kommt, muss ein kompliziertes Verfahren gelingen, EU-Parlament und Staats- und Regierungschefs müssen bei einem EU-Gipfel zustimmen. Es müssen vor allem zuerst einmal alle 28 EU-Staaten mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, dass der Artikel-7-Akt überhaupt eingeleitet wird.

Das ist real eine sehr hohe Hürde. Aber die Kommission sei verpflichtet zu handeln, sagt der Vizepräsident. Je länger er referiert, wie sich die politische Situation mit Polen zuletzt zugespitzt hat, desto deutlicher wird, dass es jetzt nicht mehr nur um Theorie des EU-Vertrages, sondern ums Eingemachte gehen könnte.

Gesprächsverweigerung

Er schildert, wie er in Warschau war, um die Probleme "im Dialog" anzugehen. Die Regierungsspitze habe ihm jedoch nur angeboten, er könne "mit einem Staatssekretär reden". Auf Warnbriefe hätten Außen- und Justizminister nicht geantwortet. Die Nationalkonservativen waren schon im Herbst 2015 an die Macht gekommen. Premierministerin Beata Szydlo begann sofort damit, das unabhängige Verfassungsgericht zu unterlaufen. Darauf hat Timmermans noch zu Weihnachten 2015 reagiert, alle juristischen möglichen Schritte angekündigt.

Seither läuft ein "Dialogverfahren", wie das genannt wird – ohne Aussicht auf gütliche Einigung. Denn Timmermans sagt nach seinem Appell, das neue Richtergesetz zu stoppen, Sätze, die man so noch nie gehört hat: "Diese Gesetze verstärken die systemischen Bedrohungen für die Herrschaft des Rechts." Und: Zusammengenommen würden sie die juristische Unabhängigkeit der Gerichte gänzlich aufheben, die Justiz unter die vollständige politische Kontrolle der Regierung stellen. Und: Die Rechtsstaatlichkeit sei in Polen "nicht mehr gewährleistet". (Thomas Mayer aus Brüssel, 19.7.2017)