Über Filme reden offenbart eigene Ansichten über die Welt. Die Psychotherapie nutzt Hollywood als Schlüssel für die Psyche.

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Lee Chandler (Casey Affleck) lebt in Quincy in der Nähe von Boston. Als Hausmeister schrubbt er Böden, schaufelt Schnee, repariert kaputte Toiletten. Dann erfährt er, dass sein Bruder gestorben ist, und kehrt zurück in seinen Heimatort. Dort holt ihn die Vergangenheit ein – die Drogen, die er nahm, der Alkohol, den er trank, die Beziehung, die er mit seinen Exzessen zerstörte. "Manchester by the Sea" ist die Geschichte eines Mannes, der sich selbst verlor und nun Stück für Stück zurück ins Leben findet.

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Bei der Oscarverleihung 2017 wurde das Drama gleich zweimal ausgezeichnet. Bei insgesamt sechs Nominierungen konnte Regisseur Kenneth Lonergan mit zumindest einer Auszeichnung für seinen Film rechnen. Was der amerikanische Filmemacher vermutlich nicht voraussehen konnte: In Klagenfurt wird "Manchester by the Sea" nun auch in der Behandlung von Menschen mit Depressionen, Ängsten und Alkoholabhängigkeit eingesetzt.

Filme wie "Manchester by the Sea" helfen dem Psychotherapeuten Otto Teischel, eine Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen und sie dazu zu bringen, Worte für ihre Probleme zu finden. "Erst reden wir nur über den Film", erklärt er, "dann dauert es meistens nicht mehr lange und die Patienten reden über sich." Nicht nur über ihr Leben, sondern vor allem auch über ihre Gefühle.

Einen Nerv treffen

Angefangen hat dieses Projekt vor 30 Jahren in Bonn. Dort hatte Teischel eine philosophische Praxis. Im Programmkino nebenan sah er damals "Paris Texas" von Wim Wenders. Siebenmal schaute er sich das Beziehungsdrama an – innerhalb von nur zwei Wochen. Der Film traf einen Nerv. Teischel hatte sich gerade von seiner Freundin getrennt.

Der Kampfgeist, mit dem Hauptdarsteller Travis um seine Beziehung rang, berührte ihn und half ihm, die eigene Trennung zu verarbeiten. Zurück in Österreich absolvierte Teischel eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. 2006 eröffnete er eine eigene Praxis in Klagenfurt am Wörthersee und führte die Filmtherapie in der Rehaklinik für seelische Gesundheit in Klagenfurt ein.

"Täglich grüßt das Murmeltier", "Billy Elliot", "Im August in Osage County", "Manchester by the Sea" für die psychotherapeutische Behandlung eignet sich im Grunde jeder Film, hat Teischel herausgefunden, Hauptsache er ist authentisch und nicht zu kitschig. "Je näher am Leben, je wahrhaftiger, desto besser."

Welche Szenen seine Patienten schließlich berühren, mit welchen Personen sie intuitiv mitfühlen, zeigt Teischel immer auch, was im Unbewussten seiner Klienten und Klientinnen vor sich geht. Denn letztendlich haben Reaktionen auch immer etwas mit den persönlichen Erfahrungen und der momentanen Verfassung zu tun. Reagiert jemand auf eine bestimmte Figur "allergisch", hakt Teischel nach.

Besonders in Gruppentherapien hat sich der Ansatz bewährt. "Vor Fremden über die eigenen Ängste und Sorgen zu reden fällt vielen Patienten anfangs schwer", erklärt der Therapeut. Das Gespräch über einen Film helfe ihnen, sich den anderen gegenüber zu öffnen.

In Tränen ausbrechen

Als er den britischen Film "Billy Elliot" einer Gruppe von Menschen mit Alkoholabhängigkeit vorspielte, hatten seine Patienten am Ende Tränen in den Augen und applaudierten. "Der Film hat sie an ihre eigenen Träume erinnert, an die Wünsche, die sie einmal hatten", sagt Teischel. Mit "einmal" meinen sie die Zeit, bevor der Alkohol begann, ihr Leben zu beherrschen. Den Film miteinander zu schauen brachte die Gruppe näher zusammen.

Wie gut sich die Filmtherapie für Gruppen eignet, weiß auch Martin Poltrum vom Anton-Proksch-Institut in Wien, einer der größten Suchtkliniken Europas. Jeden Mittwoch gibt es für 30 bis 40 Patienten eine Vorführung. Diese Sitzung ist verpflichtend und Teil der Suchttherapie. Liebesfilme gehören bei Poltrum zum Standardrepertoire, denn Beziehungsprobleme hätten seine Patienten eigentlich immer.

Viele sind nur in der Therapie, weil Partner ein Ultimatum gestellt haben nach dem Motto: "Entweder Entzug, oder ich gehe." Andere hätten ihr Familienglück durch das Trinken längst zerstört. "In solchen Momenten kann es guttun, daran erinnert zu werden, wie schön Liebe sein kann", sagt Poltrum. Geschichten wie "Eat Pray Love" oder "La La Land" gäben den Patienten Hoffnung.

Ziel verstehen

Seit kurzem zeigt der Therapeut in Kalksburg auch Filme, in denen Therapeuten vorkommen – etwa "Good Will Hunting" oder "Don Juan DeMarco". Der Grund: Manche seiner Patienten wüssten gar nicht, wie Psychotherapie eigentlich funktioniere, oder hätten Angst, dass der Therapeut sie einer Gehirnwäsche unterzieht und mit Medikamenten ruhigstellt. In den Filmen sehen sie, dass es so etwas in einer Therapie nicht stattfindet.

Den ganzen Film zeigen Poltrum und Teischel in den Sitzungen allerdings nicht, es würde die Anzahl der Behandlungsstunden überschreiten. Die Filme werden auf rund 45 Minuten gekürzt. Das hat sogar einen Vorteil: Der Film wird intensiver. Beim Zusammenschnitt achtet Teischel darauf, eher die "leichten" Szenen zu entfernen – solche, die in Hollywood oft zur Entspannung in die Handlung eingebaut werden. Poltrum hilft das Schneiden auch, Nebenwirkungen zu vermeiden. Besonders brutale Szenen kommen bei ihm raus – auch um die Patienten, die teilweise schlimme Dinge erlebt haben, nicht zu verstören. (Stella-Marie Hombach, 23.7.2017)