Marlene Monteiro Freitas und Andreas Merk beim Liebesspiel.

Foto: Laurent Paillier

Wien – Schon während das Publikum ins Theater strömt, ist die Bühne ein Schauplatz, an dem die "Erzählung" mit den Hufen scharrt. Marlene Monteiro Freitas und Andreas Merk zeigen gerade mit ihrem Duett Jaguar bei Impulstanz im Odeon, was im Gegenwartstanz ein echter künstlerischer Wurf sein kann.

Gegeben sind im Vorspiel eine Frau, ein Mann, die Statue eines Pferdes, weiters eine dreistufige Treppe in der Mitte, davor eine rote Linie und ein bisschen rhythmischer Sound. Die Situation lässt auf Freizeitsport schließen. Die Performer tragen weiße Bademäntel und Schweißbänder. Um die Münder der beiden beiläufig hin- und herhampelnden Performer ist rote Farbe geschmiert – Karneval, Verkleidung, Partnerlook. Das Pferd ist aus blauen Isolierplatten zusammengepickt und trägt Bade- und Handtücher.

Als Jaguar schließlich zum Sprung ansetzt, sackt das Licht kurz ein, rollt Donner in die Musik. Regen prasselt, Trommeln ertönen, die Bademäntel gleiten zu Boden. Weiße Shirts und kurze Hosen, die Beine mit Bronze bemalt – zwei Siegertypen auf bestem Weg, sich in Statuen zu verwandeln, beginnen zu tanzen.

Liebesverlangen

An diesem Punkt beginnt die Zeit zu schlingern. Freitas und Merk tanzen erst schnell und synchron, springen aber bald über in ein Slapstick-Verhalten. Die Musik schwillt an, wird gedämpft, explodiert in schmetterndes Blech, verfliegt in elektronisches Zirpen.

Dosenapplaus. Eine Fliege summt. Kurz sitzen die beiden auf ihrer Treppe und folgen einem imaginären, hin- und hergeschlagenen Ball. Sobald sie wieder auf den Beinen sind, verenden auch die Kapriolen der Zeit. Von da an scheinen der Mann und die Frau sich in Beckett'sche Gestalten zu verwandeln – genauer gesagt, in Abwandlungen solcher Figuren, wie sie die Französin Maguy Marin seinerzeit 1981 in ihrem Klassiker May B als Gespenster des absurden Theaters tanzen ließ.

Auch Jaguar ist eine Art "Endspiel". Sein zentrales musikalisches Motiv ist Igor Strawinskys Le Sacre du printemps, angedeutet wird ein Liebesverlangen zwischen dem Mann und der Frau. Doch das Begehren erodiert, und die beiden bleiben zu zweit allein.

Freitas konzentriert sich auf ein langes Solo, Arnold Schönbergs Verklärte Nacht weht durch den Raum. Merk igelt sich im Hintergrund ein, wieder rauscht der Regen. Das Pferd wird umhergetragen, das Paar verstrickt sich in kunstvollen Standardtanz.

Schrumpfen der Leidenschaft

Das sind nur einige der vielen Bauteile dieser gekonnt konstruierten Performance, in der keine Geste, Wendung und Tanzpassage unmotiviert eingesetzt ist. Hier sind zwei Stunden hindurch zwei gleichwertige Tänzerfiguren mit äußerster Intensität am Werk. Sie dehnen und kontrahieren die Zeit, spielen mit der Musik, mit grobem Witz und feiner Ironie, lassen große Leidenschaften glorreich ins Nichts laufen oder zu berührender Mickrigkeit schrumpfen und brechen wie manisch aufgebaute Gefühlsbögen gnadenlos ab, um sie später wieder neu zu errichten.

In Wien ist die geborene Kapverdierin Marlene Monteiro Freitas (38) erstmals bei Impulstanz 2011 im Schlepptau von Cecilia Bengolea und François Chaignaud aufgetaucht. 2014 zeigte Frie Leysen bei den Festwochen ihr Solo Guintche, und beim kommenden Steirischen Herbst wird Veronica Kaup-Hasler Freitas' großformatiges Bacchae – Prelude to a Purge präsentieren. Eine adäquate Anerkennung für eine überragende Künstlerin. (Helmut Ploebst, 24.7.2017)