Zusammengequetscht in einem der wenigen Boote, die zur Rettung noch geblieben sind: Das Geräusch der anfliegenden Luftwaffe wird in "Dunkirk" zur ständigen Begleitmusik.

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Wien – Es gibt keinen Krieg, der in seiner Ganzheit zu erfassen wäre – nicht einmal wenn der Historiker versucht, die gegensätzlichen Perspektiven im Nachhinein wieder zu einem objektiven Blick zusammenzuführen. Dann wird, wie etwa in Niall Fergusons The War of the World, zwar die ganze Welt zum Kriegsschauplatz, nicht aber die Wahrheit jene des Einzelnen.

Für den Kriegsfilm als populärkulturelle Geschichtsstunde im Kino war die Frage nach der Perspektive schon immer elementar: Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind sorgte jahrzehntelang auf der Leinwand für klare Fronten – bis die modernen Kriege es nicht mehr zuließen, Gegner und Verbündete voneinander zu unterscheiden.

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In Dunkirk tauchen die Soldaten des Feindes erst ganz am Ende auf, schemenhaft als dunkle Schatten am Strand, die einen britischen Piloten gefangen nehmen. Es ist Anfang Juni 1940, als die anrückende Wehrmacht das nordfranzösische Dünkirchen einkesselt, und mit dem letzten Brückenkopf auf dem Kontinent auch nahezu das gesamte britische Expeditionskorps, das auf seine Evakuierung hofft.

"When 400,000 men couldn't get home, home came for them", lautet die Tagline zu diesem Film. Dunkirk bleibt knapp zwei Stunden lang beinahe ausschließlich bei den Eingeschlossenen und sucht die historische Wahrheit nicht im Rückblick auf die Geschichte – Hitlers Haltebefehl für die anrückenden Panzer spielt ebenso wenig eine Rolle wie die strategischen Überlegungen Churchills -, sondern ausschließlich in der Perspektive der Hoffenden. Und zwar zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

Trailer (englisch).
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Christopher Nolan, Regisseur von Superhelden- (The Dark Knight) und Science-Fiction-Filmen (Interstellar), verbindet in seinem ersten Kriegsfilm die verschiedenen Geschehnisse nämlich nicht zu einer einheitlichen Erzählung, sondern verdichtet diese zu dramatischen Miniaturen. Am Strand versuchen zwei Soldaten, indem sie sich als Sanitäter ausgeben, eines der letzten Schiffe zu erreichen; ein Kutter bricht von der britischen Küste auf, um ein paar Soldaten an Bord zu nehmen – als Teil jener Evakuierungsaktion, bei der hunderte Schiffe das "Miracle of the Little Ships" vollbrachten. Und in der Luft liefert sich eine Handvoll Spitfire ein Gefecht mit der deutschen Luftwaffe.

Automatisierte Körper

Der unterschiedliche Zeitrahmen ist dabei mehr als bloß ein dramaturgischer Kunstgriff: Während sich das Geschehen am Strand über eine Woche erstreckt, dauert das zu Wasser nur einen Tag, jenes in der Luft gar nur eine Stunde. Es gibt, so behauptet Dunkirk, keine Verbindung des Einzelnen mit einer Gesamtheit. Erst nachdem jeder für sich entschieden hat, kann er sich auch für den anderen entscheiden.

Das naturalistische Spektakel, mit dem das Genre seit Saving Private Ryan den Weg der affektiven Anteilnahme eingeschlagen hat, fehlt hier völlig: Nolans Inszenierung setzt auf Distanz, so wie sie jedwedes Pathos vermeidet. Hier wird kaum gebrüllt, niemand erteilt Befehle, Körper reagieren wie automatisiert auf die Bedrohung. Mitunter mutet Dunkirk an wie eine Implosion, die dem Druck von außen nicht mehr standhalten kann. Und ein einzelner Soldat sucht den Freitod in den Wellen.

Dass Stars wie Mark Rylance, Kenneth Branagh, Cilian Murphy und Tom Hardy kaum Dialoge haben, entspricht Nolans Konzept, nach dem der Sound die Sprache förmlich erstickt. Dunkirk wirkt immer wieder wie ein Stummfilm, unterlegt mit einem Wummern, Dröhnen und dem Crescendo von kreischenden Streichern.

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Doch Nolan, ein hartnäckiger Verfechter des analogen Kinos, das diesem Film tatsächlich eine bemerkenswerte Textur und Detailliertheit verleiht, ist zugleich ein Technokrat des Kinos mit maximaler Zielorientiertheit. So ist auch Dunkirk geprägt von kühler Kalkuliertheit, es ist ein Situationendrama von berechnender Größe, das seine Teile schon vom Reißbrett aus wirken lässt.

Am Ende liest ein Heimkehrer in der Zeitung, was in Dünkirchen geschehen ist. Er war nur eine der schwarzen Ameisen in einer der Kolonnen am Strand. (Michael Pekler, 26.7.2017)