Oktober 2015: Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze bei Simbach am Inn (Bayern) bei der Überquerung der Grenze von Österreich nach Deutschland.

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Kommunikationswissenschafter Michael Haller.

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Jetzt ist es schon wieder passiert: Der Leipziger Medienwissenschafter Michael Haller macht extra mit Kollegen von der Hamburg Media School eine umfangreiche Studie, um das Verhalten der Medien in der Flüchtlingskrise 2015 zu beleuchten. Er schreibt extra hinein, dass es ihm weder um Medienbashing noch um moralisch-politische Bewertung der journalistischen Arbeit gehe, sondern um knallharte Text- und Qualitätsanalyse. Und dann wird er prompt missverstanden.

Noch dazu von der Zeit, welche die Studie auch noch vorab bekam: "Medien haben in der Flüchtlingskrise versagt", stand in der zugespitzten Vorabmeldung der Wochenzeitung, von einem "publizistischen Stromausfall" war im Text die Rede. Dabei steht das so nicht in der Studie.

"Zerstörerischer Konkurrenzkampf"

Haller empfand die Zuspitzung als übertrieben, reagierte im STANDARD aber ausweichend: "Der Journalismus steckt in einem zerstörerischen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit, das heißt um Reichweiten."

Haller und Kollegen haben im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung der Gewerkschaft IG Metall die Berichterstattung im Verlauf von 13 Monaten, zwischen Februar 2015 und März 2016, untersucht. Anhand reichweitenstarker Nachrichtenportale wie spiegel.de und tagesschau.de haben sie "eine Art nachrichtliches Grundrauschen" zur Flüchtlingsthematik festgestellt, anhand dessen sie zehn markante Großereignisse im Lauf dieses Jahres ausmachten.

"Gravierende Dysfunktionen"

In den überregionalen Leitmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und Süddeutsche Zeitung sowie in der Bild und in 65 Regionalmedien erfassten sie rund 35.000 redaktionelle Beiträge und führten drei verschiedene Inhaltsanalysen durch. Das Ergebnis: Die Forscher fanden "gravierende Dysfunktionen des Informationsjournalismus" insgesamt – also einen Systemfehler und nicht, wie vielfach auch in den sozialen Netzwerken behauptet, "Gutmenschen"-Journalisten, die kritiklos und parteiisch die deutsche "Willkommenskultur" feierten und negative Begleiterscheinungen ausblendeten.

Das Problem liegt laut Studie tiefer: Zunächst einmal stellten die Autoren fest, dass die Medienkonsumenten bereits lange vor der großen Flüchtlingskrise im August 2015 mit Geschichten zur Thematik förmlich "überschwemmt" wurden. Das deute auf eine "sehr schwache Selektionsleistung der Newsredaktionen" hin.

Eindimensionales Bild

Ein sehr eindimensionales Bild wurde gezeichnet: auf der einen Seite die tausenden Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, auf der anderen Seite eine heillos zerstrittene EU beziehungsweise deutsche Bundesregierung – und ganz draußen die östlichen Bundesländer, in denen eine gewalttätige Szene agiert, als "Dunkeldeutschland" etikettiert und fortan ausgegrenzt.

Ein weiteres großes Problem: Nur sechs Prozent der analysierten Texte erwiesen sich als authentisch recherchiert und erzählt, etwa in Form von Reportagen. Auch die Regionalmedien, eigentlich prädestiniert für authentische Berichte, weil "näher dran", hätten in dieser Hinsicht zu wenig Eigenleistung gebracht.

"Übliche Routinen"

Jeder fünfte Text gehörte zu den kommentierenden Formen – ein ungewöhnlich hoher Anteil, wie die Autoren feststellten, und der "Meinungsfreude" der überregionalen Leitmedien geschuldet. Interessant ist freilich, dass in der Kategorie "relevante Akteure und Sprecher" zwei von drei Nennungen zur institutionellen Politik zählen. Nur 3,5 Prozent aller relevanten Personen, die in den Beiträgen genannt werden, zählen zur Kategorie der Fachleute und Experten, die Flüchtlinge selbst kommen nur zu vier Prozent vor. Die Leitmedien hätten "dieses sozial- und gesellschaftspolitische Problemthema in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik überführt und nach den für den Politikjournalismus üblichen Routinen" abgearbeitet, heißt es in der Studie.

Dabei habe man sich auf die (partei)politische Arena der Koalitionspartner fixiert, die Mehrheit der Kommentare habe sich im Grunde nicht an die "normale" Leserschaft, sondern mehr an politische Akteure, quasi als "Handlungsanleitung", gewandt. Der journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten, sei in der Hälfte der Berichterstattungen nicht durchgehalten worden. Insbesondere Vertreter der Opposition seien mitunter "von oben herab" behandelt worden.

"Vertrautheit mit Elite"

Die Studie stellte auch eine Diktion fest, die "persönliche Nähe, auch Vertrautheit zur politischen Elite suggeriert". Die Leser hätten den Eindruck gewinnen können, die Journalisten seien weniger an der Berichterstattung über das Thema selbst als an den politischen Querelen rundherum interessiert gewesen. Haller und seine Mitautoren schreiben von "gravierenden Dysfunktionen des Informationsjournalismus".

Diese Störungen hätten sich so tief eingefressen, dass die meisten tagesaktuellen Medien bis zur Silvesternacht 2015/16 nicht erkannten, "dass sich durch die Gesellschaft ein mentaler Graben zieht, der den weltoffen-liberal denkenden Teil der Bevölkerung vom konservativ-liberal bis nationalistisch eingestellten Teil trennt". Die These der Autoren lautet, dass die beschriebenen Dysfunktionen "diesen polarisierenden und insofern desintegrativen Prozess massiv gefördert haben".

Willkommenskultur seit 2005

Ein interessantes Detail ist das Diktum von der "Willkommenskultur". Dieses sei bereits 2005 in den politischen Diskurs eingeflossen, als Forderung von Wirtschaftsvertretern an die Regierenden, und habe sich zu einer regelrechten "Kampagne" ausgewachsen, welche die Medien unterstützt hätten. Die mittlerweile ins Negative gedrehte Bedeutung der "Willkommenskultur" sei also keineswegs eine Erfindung des Jahres 2015.

Mit den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 kehrten sich die Vorzeichen um. Im ersten Quartal 2016 werde die Tonalität der Berichte beim Megathema "Flüchtlinge in Deutschland" zurückhaltender, skeptischer.

"Überfleißiges Nachholen"

Das Pendel schlägt freilich auch extrem in die andere Richtung aus: Im Jänner 2016 finden die Forscher viele Zeitungsberichte, die entgegen journalistischen Sorgfaltspflichten in ihren Berichten über Normverstöße junge Migranten und Asylsuchende ohne Beleg unter Tatverdacht stellen. "Es entsteht der Eindruck, als wollten viele Journalisten jetzt überfleißig nachholen, was sie zuvor versäumt hatten", schreiben die Autoren.

Allerdings, auch das konstatiert die Studie: Die meisten Medien hätten sich seither erkennbar bemüht, sowohl den Anteil an authentischen Eigenrecherchen zu heben, als auch kritischen, skeptischen Stimmen Raum zu geben. (Petra Stuiber, Astrid Ebenführer, 26.7.2017)