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Ein Schreibmaniker und Rhetor nicht alltäglichen Zuschnitts: Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau. Das Gemälde von Joseph-Désiré Court zeigt Mirabeau bei einer Rede 1789 in der französischen Nationalversammlung.

Foto: Viollet/picturedesk.com

Wie ist das Fernrohr nun zu halten? Richtig oder falsch herum? Blickt man mit einem Teleskop auf das achtzehnte Jahrhundert, ist diese Zeit zwischen später Früher Neuzeit, den Ausläufern des barocken Dreißigjährigen Kriegs und erster Frühmoderne, bürgerlichem Biedermeier und einsetzender Industrialisierung uns nun fern?

Oder ist sie erstaunlich nah? Ist sie eine des unaufhaltsamen Aufstiegs der Menschheit zum Glück? Oder sind die noch heute in Gesellschaftsdebatten, etwa der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen, reklamierten philosophischen Grundlagen von Rousseau, Diderot et Cie weit in den Hintergrund dieser langen Epoche zu rücken, weil Aufklärung ein Minderheitenprogramm für Kaffeehäuser und Drucker in der Schweiz war, viel stärker aber dafür diese Jahrzehnte dominiert wurden von Adelspolitik und höfischen Intrigen zwischen Wien und Berlin, Paris und St. Petersburg, Kopenhagen, London und Warschau?

Diese Fragen stellt der Berliner Historiker Leonhard Horowski. Und beantwortet sie in seinem imposanten Buch Das Europa der Könige, das zwischen erster Verlagsankündigung und Erscheinen um das Doppelte angewachsen ist, mit: Der Adel ist's. Horowski untersuchte vor einigen Jahren in einer elefantösen Dissertation (796 Seiten!) Machtstrukturen und Karrieremechanismen in Frankreich zwischen Louis XIV und Louis XVI, zwischen 1661 und 1789. Nun schildert er dies europaweit, auf ganz andere Art und Weise.

Große Erzählung

Denn einen solchen nichtakademischen, dezidiert unterhalten wollenden, eleganten, witzigen Ton hat man in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft lange nicht mehr gelesen, nicht mehr seit Golo Manns Wallenstein und Friedrich Sieburgs Essays. Welcher Frühneuzeithistoriker wagt es schon, Verweise auf Hugh Grant, Keira Knightley oder Keanu Reeves (den Horowski falsch schreibt) in ein überbordend gelehrtes Werk einzustreuen, ohne dabei anbiedernd zu wirken?

Die 20 Kapitel und 1120 anmerkungsfreien Seiten werden auch deshalb so lebendig, weil Horowski bewusst immer wieder die Grenzen zum historischen Roman überschreitet. Er erzählt. Und er erzählt auf mitreißende Weise. Eine schier unüberschaubare Zahl von Generationen von Höflingen (oft viele gleichen Namens), Aufsteigern und Absteigern, Duellanten und Kretins auf diversen Thronen, besonders krass Ferdinand III. und IV. von Neapel, der verheiratet war mit der klugen Maria-Theresia-Tochter Maria Karolina, scheiternden Thronanwärtern und haltlosen Projektemachern tauchen auf.

Illoyalität als Normalität

Dazu skrupellose Charaktere wie der Preuße Grumbkow, der französische Kardinal Mazarin oder Graf Brühl aus Dresden wie auch Königstöchter, die einzig als disponibles Heiratsmaterial galten, um Bünde zu schmieden, die dann sofort wieder aufgelöst wurden. Das Europa der Könige 1660- 1800 war viel mehr ein Anderthalbjahrhundert des Adels, in der Regel raffgierig, noch öfter beschränkt, bemüht hinterlistig und von zeremoniellem Ehrgeiz zerfressen. Überfordert hingegen waren die Könige, vor allem bei den letzten zwei französischen Regenten wird deutlich, mit welch intellektuellem Phlegma in den Untergang traumgewandelt wurde.

In einer raffinierten, überaus beeindruckenden Manier überschaut Horowski diese gewaltige Geschichte Europas zwischen Religion, Pakten und persönlichen Eifersüchteleien, zwischen hochmütig-diesseitigem Hochbarock und verspielt-träumerischem Rokoko. Immer wieder tauchen Dynastien, Familien, Personen auf, für die es ganz selbstverständlich war, die Seiten zu wechseln, einmal dem einen Lager zu dienen und dann in gleich hoher Position dem konträren.

Illoyalität war damals kein Malus, sondern Normalität, Nepotismus Naturrecht. Schließlich waren es Zeiten, in denen Neunjährige zu Bataillonsführern ernannt wurden, Bischöfe ihre Sprengel niemals besuchten und es für jeden von Stand gänzlich undenkbar war, auch nur einen Tag lang eine Universität zu besuchen.

Redner und Revolutionen

Was für eine Pose! Der rechte Arm ausgestreckt, die Energie durchpulst sichtlich noch den langen Zeigefinger. Das rechte Standbein fest durchgedrückt, das linke Bein hingegen tänzerisch gedreht. Kurz: eine wuchtige, kraftvolle Erscheinung. Auf dem Gemälde Joseph-Désiré Courts erscheint der Redner so, als hörte man ihn. Überlaut, überdeutlich, überwältigend. Dieser Rhetor war der wohl sprachmächtigste und eloquenteste Franzose der Jahre um 1789 – Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau, ein Meister der ausgefeilten Rede.

Selbst aus dem so schreibwütigen 18. Jahrhundert ragte Mirabeau als Schreibmaniker noch heraus. Der Historiker Johannes Willms, vormals Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, deren Pariser Kulturkorrespondent sowie Autor vieler Bücher über Frankreichs Historie, widmet ihm nun eine Lebensbeschreibung.

Ein Scheusal mit flächendeckendem erotischen Erfolg

Kundig zeichnet er das bewegte Leben des 1749 geborenen Aristokratensohns nach, der sich 35 Jahre lang mit seinem Vater ausdauernd stritt, ständig bis über die teure Halskrause verschuldet war, pornografische Romane, politische Denkschriften und philosophische Untersuchungen schrieb, immer wieder ins Ausland floh, wegen seines von Pockennarben verwüsteten Gesichts als "Scheusal" verspottet, erotisch flächendeckend Erfolg hatte.

Im Sommer 1789 schlug seine Stunde – er wurde kaum zu bezwingender Wortführer des Dritten Standes in den zu Paris einberufenen Generalständen. Galt als Revolutionär, wurde 1790 Präsident des Klubs der Jakobiner. Und war doch königstreu. Stachelte die Pariser auf. Und wurde unter der Hand vom Hof fürstlich entlohnt. Am 2. April 1791, vier Wochen zuvor war er 42 Jahre alt geworden, starb er überraschend.

Am Ende seines Lebens, das rechtzeitig vor dem blutigen Strudel des Terreur erlosch, war Mirabeau ein kluger Warner vor dem Aufziehen eines Schreckensregimes, aus dem nur eines entspränge – ein neuer starker Mann. Womit er recht behalten sollte; acht Jahre nach seinem Tod schwang sich Napoleon Bonaparte an Frankreichs Tête, kürte sich zum Kaiser und marschierte seinem Untergang bei Moskau und Waterloo entgegen.

Einfach nur lächeln

Man soll nicht sagen, dass Paris den allgemein zu wenig bekannten Grafen Mirabeau nicht ehrt, immerhin ist eine Pariser Métro-Station nach ihm benannt. Ironie ist dort allerdings handgreiflich: Der Eingang ist in der Avenue de Versailles, und die Züge der Linie 10 fahren einzig in Richtung Gare d'Austerlitz, benannt nach einer siegreichen Schlacht Napoleons.

Etwas zu sehr hat sich Willms in die Schriften Mirabeaus vernarrt und zitiert daraus überreich. Dafür tritt Atmosphärisches fast ganz zurück. Man erfährt nur am Rande, was Paris damals für eine Stadt war, wie Frankreich roch, wie man lebte, hungerte, feierte oder fühlte in bewegten Zeiten. Ebendies ergänzt der englische Historiker Colin Jones. Dessen Buch setzt ein mit nur scheinbar Harmlosem: einem Lächeln. Einem Lächeln in Öl auf Leinwand: dem Selbstporträt der Pariser Malerin Elisabeth Vigée Le Brun mit kleiner Tochter aus dem Jahr 1786, im Herbst 1787 im Pariser Salon gezeigt.

Zarte Revolutionen

Es war eine Revolution vor der Revolution. Denn man sah sie auf dem Bild – lächeln. Es war ein Lächeln, bei dem die Zähne zu sehen waren. Der Aufruhr war groß, der Protest immens. War dies doch unerhört wie buchstäblich bis dato ungesehen. Auf keinem offiziellen Porträt waren nämlich Zähne zu sehen. Und in der Regel wurde nicht gelächelt. Zwei Gründe hatte dies, erläutert Jones in seinem so klugen wie berückenden Buch: Bürde und Last des Repräsentierens und miserable Zahnpflege.

Auf dem formvollendeten Herrscherporträt Louis' XIV, des Sonnenkönigs, von 1701 fällt etwa bei genauer Betrachtung auf, dass die Wangen eingefallen sind – weil der Herrscher, damals 62, seit zwei Jahrzehnten keinen einzigen Zahn mehr hatte. Und sich brutalen Kieferoperationen hatte unterziehen müssen, die allein schon beim Nachlesen Schauder auslösen (beim ersten Eingriff wurde der halbe Unterkiefer mitherausgebrochen).

Selten noch ist Kunstgeschichte so wie bei dem in London lehrenden Briten so geerdet worden, selten deutlich geworden, wie nötig es ist, das Betrachten von Bildern mit Kulturhistorie, hier der Zahnkunde und des entstehenden Berufszweigs des Zahnarztes, eng zu verbinden. Man sieht nur, was man weiß – vor allem, wenn man mit diesem Band durch Gemäldegalerien schlendert. Und die so zarten, dafür entscheidenden Revolutionen wahrzunehmen versteht.

Universitätsmamsellen

Schön auch, dass Eckart Klessmanns Buch über fünf "Universitätsmamsellen" nun nach neun Jahren wieder aufgelegt worden ist, bedauerlicherweise erneut ohne Namensregister. Der 1933 geborene deutsche Sachbuchautor nimmt einen Ort unter die Lupe, der nicht einmal bei Horowski aufscheint – Göttingen. Besser gesagt: die Universität Göttingen.

Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Aufklärung und aufziehender Romantik annonciert der Untertitel. Fünf Professorentöchter waren es: Caroline Michaelis, verheiratete Schlegel wie Schelling, Therese Heyne, die Georg Forster, den Weltreisenden und Revolutionär ehelichte, Dorothea Schlözer, die als zweite Frau in Deutschland promoviert wurde, die Lyrikerin Philippine Gatterer sowie Meta Wedekind, Übersetzerin und verheiratet mit einem Biografen Johann Sebastian Bachs.

Interessant und lesenswert ist dies zum einen ob Klessmanns angenehmen Tonfalls, zum anderen wegen seines dramaturgischen Talents. In erster Linie aber ob der Kämpfe der Frauen, die untereinander teils in brieflichem Austausch standen, wider alte Konventionen und mit Emanzipation, Liebhabern, Ambitionen und Freiheiten. So fern. So nah somit. (Alexander Kluy, 13.8.2017)