Harald Rother ist von Geburt an blind. Er lief seinen besten Halbmarathon in 1:19:33 und wurde bestraft, als er mit einer "normalen" Staffel bei österreichischen Meisterschaften Bronze holte, statt brav den Behinderten zu geben. Heute läuft er mit dem Blindenstock auf der Hauptallee – auch um anderen, Sehenden, zu zeigen, "was alles geht, wenn man sich nicht behindern lässt oder sich selbst behindert"

Wenn Harald Rother die Geschichte von seinem verlorenen Autoschlüssel erzählt, holt er jenes Kichern und Kudern nach, das er sich dann, wenn er gerade ein paar Leute auf der Schaufel hat, verkneifen muss: "Ich stell mich mit einem verkniffenen Gesicht an ein Eck und such am Boden herum", erzählt Rother. "Und wenn mich wer fragt, was los ist, sage ich, dass ich meine Autoschlüssel verloren habe." Rother grinst. "Dann will mir jeder helfen. Und sucht. Hier, dort, überall." Dann gluckst er fröhlich und kichert, während er weitererzählt: "Und meistens dauert es ziemlich lange, bis der Erste fragt, ob ein Blinder überhaupt Auto fahren kann. Oder darf."

Der 60-jährige Wiener lacht – und legt noch eins nach: "Ein Bekannter hat mir mal einen Autoschlüssel geschenkt. Mit dem kann man das steigern: Da stell ich mich hin und frage Passanten, ob sie mir sagen können, wo mein Auto steht: 'Ein schwarzer Golf – mit einer großen Blindenschleife links und rechts drauf…'" Harald Rother ringt nach Luft.

"Aber weißt du, was das Schöne dran ist? Am Schluss lachen wir dann immer alle gemeinsam."

Foto: thomas rottenberg

Natürlich kann Harald Rother nicht Auto fahren. Obwohl das "natürlich" bei ihm vermutlich gar nicht passt: Harald Rother ist schon Auto gefahren – wenn auch nur in Teesdorf und mit einem Instruktor neben sich: "Wahnsinnsgefühl!" Und in seiner Jugend ist der Wiener auch Rad gefahren. Nicht am Tandem – und auch nicht auf einem abgeschiedenen, leeren Parkplatz, sondern im Straßenverkehr. Mit seinem Bruder. "Wir sind einmal sogar bis ins Burgenland gekommen: Mein Bruder hat gesagt, ich solle einfach gerade nach unten schauen und mich an der weißen Begrenzungslinie orientieren. So weit konnte ich ja sehen. Er ist versetzt hinter mir gefahren. Das war unglaublich schön."

Freilich: Das war in den 70er-Jahren. Da war der Verkehr noch ein bisserl weniger dicht. Aber: Blind war Rother damals auch schon. Zumindest aus der Sicht eines Sehenden. Und gelaufen? "Gelaufen bin ich immer – ich habe sechs Geschwister. Und ich habe immer alles gemacht, was die auch getan haben: Behindert war ich immer nur in den Augen der anderen."

Foto: thomas rottenberg

Aber der Reihe nach: Harald Rother kam nicht blind zur Welt – er erblindete infolge von Komplikationen während seiner Geburt. Und "blind" ist relativ: Lange Jahre hatte er etwa eineinhalb Prozent Sehfähigkeit. "Ich konnte Objekte und Formen bis auf rund zehn Meter sehen."

Für die Regelschule in den 60er-Jahren war das zu wenig. Harald kam ins BBI, ins Bundes-Blinden-Institut. Dort wurde er zum Masseur ausgebildet ("mein Traum wäre Arbeit mit Rennpferden gewesen, aber da muss man wirklich die kleinsten Veränderungen erkennen, das ging einfach nicht") – und war ab seinem Abschluss unvermittelbar: "Es waren die 70er-Jahre. Die Stadt, aber auch alle Privaten, haben gesagt, dass es nicht geht, dass man einen Mann massieren lässt."

Was das bedeutete, war klar: "Nur jeder 40. Behinderte fand damals einen Job – ich bin direkt aus der Schule in Pension geschickt worden."

Aber eigentlich, sagt Harald Rother, als wir uns Sonntagvormittag neben der Prater Hauptallee auf eine Parkbank gesetzt hatten, "wollten wir doch übers Laufen reden. Und darüber, wie schön das Leben ist."

Foto: Thomas Rottenberg

Stimmt. Also nochmal von vorne: Harald Rother ist blind – und läuft. Das ist nicht weiter ungewöhnlich: Laufen ist ein Sport, den Blinde und sehschwache Personen in der Regel ohne größere Probleme ausüben können. Meist sind sie mit Begleitläufern unterwegs – und mit einem kurzen, lose getragenen Band mit ihrem "Guide" verbunden.

Begleitlaufen ist keine Hexerei. Wenn man auf ein paar Kleinigkeiten achtet, kann das jeder. Ich springe hin und wieder als Begleitläufer ein – und bin zuletzt beim Frauenlauf mit der blinden Skifahrerin Veronika Aigner unterwegs gewesen.

Das fiel der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs auf – und schon war der Kontakt zu Harald Rother hergestellt. Rother rennt nämlich noch einen Tick anders: Solo – und mit Blindenstock. Und das mache sonst kaum wer. Oder eigentlich niemand.

Und dann gäbe es da noch eine andere Geschichte zu erzählen: die von einem blinden jungen Läufer, der in den 70er-Jahren an den Strukturen der österreichischen Sportfunktionärskaste fast zerbrochen wäre.

Foto: Thomas Rottenberg

Harald Rother war nämlich einmal schnell. Und zwar richtig schnell: Entdeckt wurde er, weil er, wie er heute sagt, als Bub aus der Leopoldstadt "halt im Prater gerannt bin". Seine sportliche Heimat fand er beim WAC – und 1976 trat er da auch als Teil einer Staffel an, die über 25 Kilometer bei den österreichischen Meisterschaften Bronze holte.

Nur gab es, als herauskam, was nie jemand verheimlicht hatte, einen veritablen Skandal: Die Staffel schlitterte haarscharf an der Disqualifizierung vorbei – und für Rother gab es weder einen Platz auf dem Stockerl noch eine Medaille. "Man richtete mir aus, dass das hier ja keine Behindertenveranstaltung sei – und ich deshalb gar nicht hätte teilnehmen dürfen", wird der Läufer heute noch emotional. Ein Vereinskollege hätte sogar herausgefunden, dass er mit anderen Leistungen eigentlich zum österreichischen Jugendmeister gekürt hätte werden müssen. "Aber das waren die 70er-Jahre. Das tiefste Mittelalter." Es hätte nicht viel gefehlt, und Rother hätte den Sport ganz bleiben lassen.

Faksimile/ Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs

Nur: Dazu machte ihm Laufen nicht nur zu viel Spaß, er war auch zu gut. "Meine persönliche Bestzeit beim Halbmarathon waren 1:19:33", doch als er und seine Trainer sich daran machten, den Rohdiamanten zu schleifen, kam ein Motorradunfall (Harald saß hinten) dazwischen: Etliche Knochenbrüche, eine längere Pause – und "für den kompletten Neuaufbau hatte ich einfach nicht die Nerven, die Energie, die Motivation und die Geduld."

Rother suchte sich stattdessen eine andere Aufgabe – und wurde Behindertenbetreuer. "Da hat es natürlich sofort wieder geheißen, dass das gar nicht geht: Wie soll ein Behinderter denn Behinderte betreuen können? Noch dazu ein Blinder?" Den Bedarf gab es aber. Und Zeit hatte der jugendliche (Zwangs-)Pensionist ja: "Ich habe unentgeltlich Menschen betreut. Und das mache ich heute noch. Auch ohne Ausbildung kann man mit Menschen arbeiten, sich um sie kümmern: Es gibt mir viel – und ihnen wohl auch. Und es stellt den Begriff 'behindert' infrage."

Foto: Thomas Rottenberg

Sport war für Rother nach wie vor wichtig: Schwimmen, laufen und paddeln. "Ich hatte ein Paddelboot und war damit viel auf der Alten Donau unterwegs." Wie das ging? 1987 veränderte sich Rothers Sehfähigkeit infolge einer Erkrankung. "Ich hatte plötzlich nur sieben Dioptrien, konnte also eigentlich sehen", erzählt er – und betont: "Eigentlich."

Der Haken: "Man sieht ja nicht im Aug, sondern im Hirn: Die Informationen werden im Kopf zu Bildern gemacht. Aber mein Kopf hatte nie gelernt, diese Informationen zu verarbeiten."

Im Alltag, erzählt Harald Rother, war das nicht einfach: "Sobald ich in eine Situation kam, in der ich unsicher war, hat mein Kopf wieder die alten Schemata und Muster aktiviert: Ich 'sah' zwar, konnte die Bilder aber nicht interpretieren oder darauf reagieren."

Um 2010 wurde der Sehsinn dann wieder schlechter – bis Rother wieder dort war, wo er immer gestanden hatte: mit 1,6 Prozent Sehfähigkeit: "Das Boot, den Sport – das musste ich alles aufgeben."

Grund zum Verzweifeln sei das aber keiner gewesen: "Ich kannte den Ort, an den ich kam, ja schon. Ich glaube, ein Sehender hätte sich viel schwerer getan."

Foto: Thomas Rottenberg

Laufen ging der gelernte Masseur aber weiterhin. Weiterhin solo. Weiter ohne Begleitläufer – und immer ohne Stock: Wer auf zehn Meter Umrisse und Strukturen erkennen kann, will es auch ohne schaffen. Im Alltag – und auch beim Laufen auf der geraden, ebenen Hauptallee. "Aber irgendwann hat mich dann die Sonne geblendet – und ich bin mit dem Kopf gegen ein Verkehrszeichen geknallt." Die Folgen waren verheerend: Das Sehvermögen reduzierte sich von 1,6 auf ein halbes Prozent: "Wenn ich in der Früh in den Spiegel sehe, putze ich einem Picasso die Zähne."

Aber bitter? Nein, bitter wurde Rother nicht. Auch nicht, als er wenig später mit einem Hydranten kollidierte – und sich einen komplizierten Leistenbruch zuzog: "Die ausgleichende Gerechtigkeit: Der Hydrant verrostet. Um den kümmert sich keiner mehr."

Foto: thomas rottenberg

Dennoch: Der Griff zum Stock war nun unvermeidlich. Und brachte neue Erfahrungen. Harald Rother ist einer, der in allem das Positive sucht – und auch findet.

Den Blindenstock sieht er nicht als Stigma, sondern als Chance, das Gute in seinen Mitmenschen zu erkennen: "Ich fühle mich wohl mit dem Stock. Und: Man erkennt, wie viele Menschen rund um einen sind, die eine enorme soziale Kompetenz haben. Die der Umwelt und Mitmenschen mit Empathie und Mitgefühl gegenübertreten. Und Gutes wollen." Dass man da gelegentlich Gefahr läuft, von es all zu gut Meinenden ungefragt und im besten Wollen entmündigt zu werden, stimme aber. "Ja, es kommt vor, dass mir wer einen Brösel aus dem Gesicht wischt. Aber: Man kann das ganz leicht klären und auch erklären: Es meint keiner böse."

Foto: Thomas Rottenberg

Und beim Laufen? Mit dem Blindenstock läuft Harald Rother erst seit kurzem. Zwei- bis dreimal pro Woche auf der Hauptallee. Am liebsten zeitig in der Früh, bevor der "Strip" sich füllt. Ganz einfach sei das Laufen mit dem Stecken in der Hand nicht, gibt der Läufer zu: Die Handhaltung störe die Gleichmäßigkeit und das Finden eines guten Rhythmus. "Ich laufe meisten 400 bis 800 Meter und mache dann eine Gehpause. Die Kondition würde passen, aber der Stock zieht den Arm hinunter."

Aber da ist noch etwas: Wenn Harald Rother läuft, bleibt er nie lange allein. "Die Reaktionen der Leute sind extrem positiv. Und ich rede gern mit Menschen. Manchmal komme ich mir fast wie ein laufender Seelsorger vor, der den Leuten Mut macht: Ich habe mich selbst nie als Behinderten gesehen – und wenn ich erzähle, was alles möglich ist, wenn man sich nicht einengen oder behindern lässt, sehen die Leute, was alles geht. Wenn man will und dran glaubt."

Aber natürlich gebe es auch die anderen. Die Grantigen. Die Nörgler. Die Sich-selbst-Blockierer. "Beim Laufen reden die mich eigentlich nie an. Und auch im Alltag kriege ich das hin: Da suche ich dann nach meinem Autoschlüssel …" (Thomas Rottenberg, 9.8.2017)

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