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Emmanuel Carrère, Christophe Boltanski: "Bekenntnis zu den Bruchlinien am Anfang der eigenen Identität".

Fotos: EPA/Gianinazzi, AFP/Guillot

Das Haus steht in Paris in der vornehmen Rue Grenelle im siebenten Pariser Arrondissement. Die Familie, die es bewohnt, kennzeichnet viele Widersprüche. Ihre Geschichte ist wahr, oder zumindest so wahr, wie man eine Geschichte nachträglich zusammenfügen kann, aus Erinnerungen, Gesprächen, offiziellen Eintragungen und Romanen der Großmutter.

Heute ist die Familie in Frankreich öffentlich bekannt, was diesem Erinnerungsalbum in Romanform zusätzlich Resonanz verleiht. Christian Boltanski, der Onkel des Autors, ist ein international gefeierter Konzeptkünstler, in dessen Werk es bezeichnenderweise auch um die Fragilität von Erinnerungsentwürfen geht. Luc Boltanski, der Vater, gehört zu den anerkanntesten Soziologen Frankreichs. Christophe selbst, der Autor von Das Versteck, kennt man als Journalist und Chefredakteur des Reportagemagazins XXI.

Der Grundriss des Hauses gibt den einzelnen Kapiteln von Boltanskis Spurensuche die Richtung vor: Nach und nach, Zimmer für Zimmer, wird das Gebäude, in dem man sich an keine Konventionen hielt, um ein Gedächtnis erweitert. Entscheidend ist von Anfang an der Eindruck der Isolation, eines Rückzugs, einer Grenzziehung zwischen dem Innen und Außen. Die Hintergründe lüftet der Autor allerdings nicht auf einen Schlag. Diese Suspense entspricht der Erfahrung eines Kindes, das nicht alle Fakten bei der Hand hat. Das Besondere an der eigenen Situation begreift man immer erst aus der Distanz.

Leerer Kühlschrank

Boltanski erzählt in fragmentarischen, aber stets bildstarken Blöcken, die ins Essayistische ausholen. Er dringt in die Räume mit Erinnerungen ein. So nimmt das zweite mit "Küche" überschriebene Kapitel mit einer Erkundung der merkwürdigen Essgewohnheiten der Familie seinen Anfang, die dem Provisorium der Lebensweise der Boltanskis entsprachen. Der Kühlschrank war immer leer: "Wir hatten Angst. Vor allem, vor nichts, vor den anderen, vor uns selbst. Vor verdorbener Nahrung. Faulen Eiern. Menschenmassen und ihren Vorurteilen, ihrem Hass, ihren Begehrlichkeiten."

Die Angst, die Paranoia, von der Boltanski schreibt, hat historische Ursachen. Auch dafür gibt es eine architektonische Entsprechung, eine Anomalie im Haus, die diesem außergewöhnlichen Buch den Titel gibt. Es handelt sich um einen zwischen zwei Etagen liegenden Raum, der dem Großvater des Autors, Etiènne, in der Zeit der Nazi-Okkupation 20 Monate lang zum lebensrettenden Versteck wurde. Gelüftet wird es vielleicht auch deshalb so spät, weil das Gebäude insgesamt eine ähnliche Funktion erfüllte: Das Haus war Gefängnis und Laboratorium in einem, ein Zufluchtsort, eine autarke Zone, um der Gesellschaft zu entfliehen. So zeichnen sich die Bruchlinien der französischen Geschichte, besonders des Antisemitismus, bereits in den Biografien der Großelterngeneration ab. Die Familie und das Haus sind der Versuch, diesen historischen Verirrungen eine bohemehafte Korrektur entgegenzusetzen.

Liebevoll, ironisch und respektvoll umzirkelt Boltanski die Fragen nach der fließenden Identität seiner Familie. Es ist eine Suche, die ihn auch zu den jüdischen Wurzeln des Familiennamens in der Ukraine führt. Allein, die Spuren enden immer wieder im Nebel der Geschichte. Der nach Frankreich ausgewanderte Großvater wollte sich in Frankreich neu erfinden. Er erlebte die Gräuel des Ersten Weltkriegs als Soldat, entschied sich sogar dazu, zum Katholizismus zu konvertieren. Doch die Nation übte an ihm Verrat. Der Chefarzt eines Pariser Krankenhauses landete auf den Listen des Vichy-Regimes und musste untertauchen. "Mein Genügt-mir" wird er das Zimmer später nennen, schon wieder befreit: einen Fluchtpunkt, eine Abwendung von der Welt.

Das eigentliche Zentrum des mit dem Prix Femina prämierten Romans ist jedoch Marie-Élise, die Großmutter des Autors, deren Herkunft wie das Gegenmodell zu der des Großvaters erscheint. Nach dem Geburtsschein das Kind katholisch-chauvinistischen Bürgertums, wird sie von einer reichen Gutsbesitzerin adoptiert. Beide Pole wird sie ein Leben lang bekämpfen: Wie aus der Großgrundbesitzerin eine Pariser Salonkommunistin wurde, ist nur ein weiterer der verblüffenden Widersprüche dieses Buches. Für Boltanski ist die Rolle der Großmutter noch entscheidender, thront sie doch in der Mitte dieses Matriarchats, nicht einmal ihre schwere Gehbehinderung nach einer Polioerkrankung kann ihrer Autorität etwas anhaben. "In allem zeigte sie ein doppeltes Gesicht. Zugleich Landbesitzerin und Mitglied der Kommunistischen Partei , ausgeschlossen und gewählt, adoptiert und dotiert, Großmutter und böser Wolf, behindert und Weltenbummlerin, unbeweglich und allmächtig." Die Rue de Grenelle blieb wie diese selbst unbestimmbar, ein Ort der Freiheit, zugleich ein Verlies. Die eigenwilligen Gesetzgebungen befeuerten die Entdeckungslust der Kinder. Jeder konnte in dieser kontrollierten Anarchie seine Identität erproben.

Aufschlussreich ist da der Vergleich zu Emmanuel Carrères Ein russischer Roman, in dem der französische Autor eine vergleichbare familiäre Spurensuche unternimmt. Allerdings aus einer völlig anderen Motivlage heraus: Denn auf Carrère, Sohn der Wissenschafterin und Politikerin Hélène Carrère d'Encausse, lastet das Schicksal seines Großvaters, eines Mussolini-Verehrers und Kollaborateurs, der am Ende des Krieges auf der Flucht von der Résistance gefangen genommen wurde und spurlos verschwunden ist.

Auslöser der Erinnerung ist jedoch das Schicksal eines anderen Vergessenen des Zweiten Weltkriegs, eines ungarischen Soldaten, der in der russischen Kleinstadt Kotelnitsch zuerst im Gefängnis, später in einer psychiatrischen Klinik landete; so lange, bis sich niemand mehr an ihn erinnerte. 60 Jahre später wird er entdeckt, und Carrère fasst den Entschluss, über ihn einen Dokumentarfilm zu drehen.

Carrère war immer schon ein autofiktionaler Schriftsteller, in seinem gefeierten Buch Das Reich Gottes stellte er seine eigenen Erfahrungen der Erkundung des Frühchristentums gegenüber. Auch Ein russischer Roman reicht nun in seine eigene Identität hinein, weil er sich über die Auseinandersetzung mit Russland den Schlüssel zu seinen Unzulänglichkeiten erhofft. Doch sowenig er in der Lage ist, sich die russische Sprache anzueignen, so wenig taugt er als Regisseur seines Films. Die Einheimischen verschließen sich gegenüber der ausländischen Crew, weil sie nicht verstehen können, was diese an dem trostlosen Flecken in Russland überhaupt interessiert. Parallel dazu arbeitet Carrère die Beziehung zu seiner Freundin auf, die sich durch seine lange Abwesenheiten nicht eben zum Besseren entwickelt.

Das klingt alles nach dem Eingeständnis einer Niederlage, und doch ist dieses Buch so lesenswert wie jenes Boltanskis. Denn Carrère ist sich freilich in jedem Satz bewusst, dass er die auktoriale Position in dieser Geschichte innehat; zugleich weiß er, dass nur eine Geschichte von Belang sein kann, die sich mit der Unvollkommenheit der Wirklichkeit messen kann. Ein von ihm wie ein perfekter Überfall eingefädelter Liebesbeweis muss genau deshalb scheitern, weil sich das schriftstellerische Selbst über die Realität erhebt und glaubt, alle Eventualitäten ausschließen zu können. So unterschiedlich diese zwei Romane auch sind, treffen sie sich doch in der Einsicht, dass es keinen Abschluss dieser Geschichten gibt, sondern nur Mutmaßungen und Annäherungen. Beide bekennen sich zu den Bruchlinien, an denen die eigene Identität ihren Anfang nahm. (Dominik Kamalzadeh, Album, 12.8.2017)