"Für Glauben, Zar und Vaterland", steht auf dem riesigen Plakat am Krjukow-Kanal in St. Petersburg, direkt gegenüber dem Kinostudio Rock von Regisseur Alexej Utschitel. Der 65-Jährige ist einer der bekanntesten Filmemacher Russlands. Mit Werken wie "Das Tagebuch seiner Frau", "Gefangener" und "Krai" (in der deutschen Fassung: "Zug des Todes") erlangte er auch international Anerkennung.

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Die Gegner fordern Zensur, die Kampagne erinnert an den Skandal um Pasternaks "Doktor Schiwago".
Foto: Rock Films Studio via AP

Doch mit seinem neuesten Film "Matilda" droht er in seiner Heimat zum Aussätzigen zu werden. Seit Monaten laufen orthodoxe Aktivisten Sturm gegen das Historiendrama. Das Banner vor dem Studio, auf dem von Utschitel ultimativ "Hände weg vom russischen Zaren" gefordert wird, ist nur der jüngste Teil einer Kampagne gegen den Künstler, die zum Indikator für das vergiftete gesellschaftliche Klima geworden ist.

Welle der Empörung

In dem Film geht es um eine Liebesbeziehung zwischen dem – aus damaliger Sicht –künftigen Zaren Nikolai II., gespielt vom deutschen Schauspieler Lars Eidinger, und der polnischstämmigen Tänzerin Mattilda Kschessinskaja, Primaballerina am Petersburger Mariinski-Theater. Die Affäre ist historisch verbürgt. Die Beziehungen dauerten von 1892 bis 1894, als der Zarewitsch sich mit der Prinzessin Alix von Hessen Darmstadt – der späteren Zarin Alexandra Fjodorowna – verlobte und den Kontakt zu Kschessinskaja abgebrochen hatte.

Trotz der historischen Authentizität rief der Film bei radikalen Orthodoxen eine Welle der Empörung hervor. Zum Wortführer der Bewegung machte sich die Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja, die sich in Russland während der Angliederung der Krim als dortige Staatsanwältin einen Namen gemacht hatte. "'Matilda' verletzt die Gefühle der Gläubigen", erklärte die 37-Jährige bereits während der Dreharbeiten, als noch niemand überhaupt Bilder des Streifens gesehen hatte.

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Der Hintergrund: Das Image von Zar Nikolai II., während der Sowjetzeit als charakterschwacher, unfähiger und blutiger Herrscher geschmäht, wurde in den vergangenen Jahren kräftig aufpoliert. Die russisch-orthodoxe Kirche hat den letzten Zaren wegen seines gewaltsamen Todes – 1918 erschossen die Bolschwiki im Ural die gesamte Zarenfamilie – gar als Märtyrer heiliggesprochen. Eine Liebesaffäre passt so gar nicht in das Bild des Heiligen, das von Nikolai inzwischen immer öfter gemalt wird. Und es passt nicht ins Bild des unfehlbaren Herrschers, das in Russland Hochkonjunktur hat.

Utschitel half nicht einmal der Segen Wladimir Putins gegen die Anfeindungen. Der Kremlchef hatte dem Regisseur während einer TV-Fragestunde seine Gunst versichert und erklärt: "Niemand versucht, den Film zu verbieten." Eben jene Forderungen wurden zuletzt aber aus den Regionen immer lauter.

"Schützer des Glaubens"

Kurios, dass sich dabei ausgerechnet die islamisch geprägten Teilrepubliken im Kaukasus als "Schützer des orthodoxen Glaubens" hervortun: "Solche Filme wie 'Matilda' lassen einen unwillkürlich denken: Sollten wir nicht eine gute Zensur einführen?", sagte der Republikchef von Inguschetien Junus-Bek Jewkurow. Und sein tschetschenischer Amtskollege Ramsan Kadyrow forderte vom Kulturministerium ein regionales Aufführungsverbot für "Matilda" in seiner Region. In Tschetschenien werde den Film, der das "Andenken der Vorfahren" schände, jedenfalls niemand sehen, kündigte er an.

Das Kulturministerium seinerseits hat dabei keine Bedenken und den Film russlandweit freigegeben. Doch Gegenwind kommt inzwischen aus der eigenen Umgebung: Der Leiter der das Ministerium beratenden Bürgerkammer Pawel Poschigailo attestierte dem Liebesdrama sarkastisch Oscar-Chancen, "weil es Schmutz über die russische Geschichte ausgießt". Der Film habe mehr Ähnlichkeiten mit "Emmanuelle" als mit dem tatsächlichen Zarenalltag, klagte er.

Druck kommt auch von behördlicher Seite. Auf der Krim ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen der Vorführung erster Filmtrailer in der Kinowerbung. Die Situation erinnere ihn an die Hetzkampagne gegen den Schriftsteller Boris Pasternak, klagte der Bürgerrechtler Grigori Joffe. Gegen Pasternak wurde nach Erscheinen des Romans "Doktor Schiwago" ein öffentlicher Aufruhr inszeniert. In Zeitungen wurden Leserbriefe angeblich empörter Bürger abgedruckt. Die bekannteste Formulierung gegen das Buch dabei lautete: "Ich habe es nicht gelesen, aber ich verurteile es." (André Ballin, 14.8.2017)