Jan Oliver Huber und Alexander Hagenauer verhandeln die Medikamentenpreise in Österreich.

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Jan Oliver Huber: "Der Wettbewerb hat zu sinkenden Preisen geführt. Mehr Anbieter auf dem Markt sind ein Vorteil für die Versicherung."

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Alexander Hagenauer: "Zur Entspannung bei den Medikamentenkosten kommt es, wenn Patente ablaufen. Da kommt es dann wirklich zu einem Wettbewerb."

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STANDARD: Die Pharmaindustrie will möglichst hohe Gewinne machen, die Sozialversicherung möglichst wenig Geld ausgeben. Wie kann sich das ausgehen?

Alexander Hagenauer: Wir haben unterschiedliche Rollen. Unsere Aufgabe als Krankenversicherung ist es, den Patienten die Medikamente, die sie benötigen und die auch einen gesicherten Nutzen haben, zur Verfügung zu stellen. Als Einkäufer von Arzneimitteln müssen wir auch die Marktposition der Versicherten wahrnehmen und den Monopolen und Oligopolen der Industrie den Schutz des Sozialversicherungssystems entgegenstellen.

STANDARD: Müssen die Patienten geschützt werden?

Jan Oliver Huber: Ja, und zwar vor der Sozialversicherung. Denn den Monopolvorwurf gebe ich gerne an den Hauptverband zurück. Er entscheidet alleine, welches Medikament unter welchen Voraussetzungen von den Krankenkassen bezahlt wird. Die Unternehmen haben hier keine Wahl. Die Sozialversicherung verwaltet die Pflichtbeiträge der Arbeitgeber und -nehmer für die Leistungen, die uns per Gesetz zustehen. Sie entscheidet dabei, aus welcher Bandbreite Ärzte Medikamente verschreiben können.

Hagenauer: Klar ist, dass der Arzt die Therapieentscheidung trifft und die Versicherten einen Anspruch auf Leistungen haben. Wir verwalten das Geld der Versicherten treuhänderisch und müssen damit auskommen. Die Frage ist: Wie kaufen wir in diesem System Medikamente ein und zu welchem Preis?

STANDARD: Bekommen Patienten alle Medikamente, die sie brauchen?

Huber: Grundsätzlich haben wir eine gute Versorgung, solange die Ärzte ihre Therapieentscheidung nach bestem Wissen und Gewissen treffen können. Aber wir müssen aufpassen, denn in den letzten Jahren gab es immer mehr Einschränkungen bei der Verschreibbarkeit innovativer Medikamente.

Hagenauer: Studien zeigen, dass wir in Österreich Medikamente mit einem nachweisbaren medizinischen Nutzen sehr rasch für die Patienten verfügbar machen. Bei den Krebsmedikamenten sind wir, wie eine Studie aus Schweden zeigt, im EU-Vergleich sogar auf Platz eins.

STANDARD: Worauf führen Sie das zurück?

Hagenauer: Wir haben seit 2005 ein transparentes System zur Aufnahme von Medikamenten in den Erstattungskodex (EKO). Firmen stellen Anträge an den Hauptverband. Die Heilmittelevaluierungskommission (HEK) prüft den pharmakologischen Innovationsgrad und die medizinisch-therapeutische Wirksamkeit. Auf dieser Basis werden die Preise verhandelt. Zusätzlich zu den Medikamenten, die im EKO aufgelistet sind, werden von den Krankenkassen nach chefärztlicher Bewilligung auch Medikamente aus der sogenannten "No Box" bezahlt.

Huber: Die Wirksamkeit eines Medikaments wird bereits bei der Zulassung auf europäischer Ebene von der EMA (European Medicines Agency) geprüft. Der Hauptverband prüft das noch einmal. Ich finde, es macht gar keinen Sinn, hier eine Zweigleisigkeit zu etablieren.

Hagenauer: Dazu haben wir den gesetzlichen Auftrag. Ich verstehe, dass Sie das nicht gerne hören. In der HEK sitzen die führenden Pharmakologen dieses Landes, die den Innovationsbegriff der Industrie kritisch hinterfragen. Sie beurteilen auch, welchen Zusatznutzen ein Medikament gegenüber den derzeit verfügbaren Arzneimitteln hat.

STANDARD: Was ist denn eine wirkliche Innovation auf dem Medikamentenmarkt?

Huber: Das ist oft nicht ganz einfach, denn nicht jedes neue Arzneimittel ist ein therapeutischer Durchbruch. Es gibt Schrittinnovationen. Oft gibt es einen anderen Nutzen für die Patienten. Wenn ich statt vier Tabletten pro Tag nur mehr eine pro Woche schlucken muss, kann das ein großer Vorteil sein. Das bedeutet Lebensqualität. Es sollte auch nicht verboten sein, ein Medikament in die Zulassung zu bringen, das gleich gut wirkt wie die vorhandenen. Meine Erfahrung war immer so: Wenn der Preis passt, wird über den Innovationsgrad nicht gestritten.

STANDARD: Wie stellt man denn den Nutzen fest?

Hagenauer: Nicht alles, was scheinbar eine Innovation ist, ist auch wirklich eine. Von rund 73 Krebsmedikamenten, die die EMA zwischen 2009 und 2014 zugelassen hat, lagen bei rund 23 Prozent keine Daten zu den Endpunkten "Gesamtüberleben" und "progressionsfreies Überleben" vor. Das zeigt, wie zentral die Rolle der HEK und des Hauptverbandes bei der Beurteilung der Wirksamkeit ist.

Huber: Daten zu den Endpunkten kann es bei innovativen Medikamenten nicht immer geben. Gerade die Arzneimittel gegen Krebs haben in den letzten Jahren Unglaubliches erreicht. Wir können heute viel mehr Jahre des Überlebens sicherstellen als vor 20 Jahren. Wir behandeln um 30 Prozent mehr Patienten, und der Prozentsatz der Krebsmittel an den gesamten Gesundheitskosten ist nahezu konstant. Das zeigt, dass Therapien viel effektiver geworden sind.

Hagenauer: Bleiben wir bei den Fakten: Zwischen 2009 und 2016 sind die Kosten der Krankenversicherung für Krebsmittel von rund 129 auf über 258 Millionen Euro gestiegen – bei gleichbleibendem Anteil an den Verordnungen. Mir geht es auch darum, den Innovationsbegriff, wie ihn die Industrie verwendet, zu entmystifizieren. Eine Studie des Ludwig-Boltzmann-Institutes für HTA zeigt, dass nur jedes siebte Krebsmedikament eine Lebensverlängerung von über drei Monaten verspricht.

Huber: Meine Zahlen beziehen sich sowohl auf den niedergelassenen als auch auf den Spitalsbereich. Immer mehr Krebsmittel gibt es auch in Tablettenform und können daher auch außerhalb des Spitals verabreicht werden. Da treffen die Kosten dann die Sozialversicherung. Das ist das Problem mit der geteilten Finanzierung – wir haben keine gesamthafte Rechnung und Sichtweise im Gesundheitswesen.

STANDARD: Aufsehen haben die Hepatitismedikamente erregt. Können wir uns das leisten?

Huber: Von der Sozialversicherung wurde deswegen der Weltuntergang heraufbeschworen. Dieser ist jedoch nicht eingetreten. Die Krankenkassen haben jedes Jahr eine positive Gebarung. Ich verstehe nicht, warum wir das nicht als Erfolg feiern: Wir haben sehr früh die Versorgung der Patienten sichergestellt und sind trotzdem finanziell nicht untergegangen.

STANDARD: Aber es haben nicht alle Hepatitis-C-Infizierten bekommen ...

Huber: Das stimmt. Im ersten Jahr wurden nur die schweren Fälle behandelt, dann immer mehr Patienten. Vor drei Jahren hat die Therapie 50.000-60.000 Euro gekostet. Die Kosten sind seither deutlich gesunken. Das hat der Wettbewerb geregelt. Die Diskussion ist aber nie ehrlich geführt worden. Es gab schon vor dem letzten Durchbruch eine Therapie mit Interferon. Da lagen die Kosten bei 1.600 bis 1.800 Euro pro Monat und brachten nur 20 bis 25 Prozent Heilung. Jetzt haben wir ein Medikament mit 100-prozentiger Heilung, und man sieht nur den Preis und nicht das positive Ergebnis. Wenn man alle Kosten gegenüberstellen würde, dann ist diese Hepatitistherapie günstig und sehr wirksam.

Hagenauer: Die rasche Aufnahme der Hepatitis-C-Medikamente in den EKO ist ein eindrucksvoller Beleg für die Leistungsfähigkeit unseres solidarischen Gesundheitssystems. Die Therapie als günstig zu bezeichnen, finde ich schon fast frivol. Die Kosten betrugen pro Patient bis zu 150.000 Euro, und die Krankenversicherung hat dafür bisher schon mehr als 280 Millionen Euro ausgegeben. Dass Sie die Gewinnmaximierungsstrategie der Firmen verteidigen, verstehe ich. Aber es geht um die grundsätzliche Frage, wie die Preispolitik internationaler Konzerne aussieht. Es handelt sich dabei um ein gesamteuropäisches und ein weltweites Problem. Selbst der Rat der EU hat hier Marktversagen festgestellt und davor gewarnt, dass der Zugang der Patienten zu wirksamen und erschwinglichen Arzneimitteln durch sehr hohe Preise in Gefahr ist und die sozialen Sicherungssysteme an die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit geraten. Es ist unsere Aufgabe, gegen die Abschöpfung der Gesundheitstöpfe aufzutreten.

Huber: Sie verbreiten hier Angst und Schrecken, es gibt keine radikale Abschöpfung und auch keine Grenzen der Finanzierbarkeit. Mir ist international kein einziges Sozialversicherungssystem bekannt, das aufgrund der Kosten der Hepatitis-C-Therapie in die Pleite gerutscht wäre. In Österreich haben die Krankenkassen seit Jahren einen Überschuss und drei Milliarden an Rücklagen.

Hagenauer: Schauen wir uns die Gebarung genauer an. Wir wenden in der Krankenversicherung jährlich 3,44 Milliarden Euro für Heilmittel auf. 2014 und 2015 hatten wir Steigerungsraten von fünf Prozent und darüber. Im ersten Halbjahr 2017 liegen wir bei 4,5 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt ist im Vergleich dazu zwischen 2012 und 2016 real um 0,8 Prozent gestiegen.

Huber: Ihre Zahlen stimmen nicht ganz, weil sie die individuellen Rabatte nicht ausweisen. Die machen fast ein Prozent aus. Bei den Gesamtausgaben ist auch die Umsatzsteuer dabei, und man muss fairerweise die Rezeptgebühr, die die Patienten bezahlen, abziehen. Und wenn ich mir die Verwaltungskosten in der Sozialversicherung ansehe, dann sind die von 2015 auf 2016 um 4,6 Prozent gestiegen, also stärker als die Ausgaben für Arzneimittel. Vielleicht sollte man hier auch einmal hinsehen.

STANDARD: Im Jahr 2016 stiegen die Medikamentenausgaben nur um 2,5 Prozent. Was war der Grund für diese Entlastung?

Huber: Der Wettbewerb hat zu sinkenden Preisen geführt. Mehr Anbieter auf dem Markt sind ein Vorteil für die Versicherung.

Hagenauer: Zuvor hat es aber offensichtlich ein massives Marktversagen und eine unangemessene Preispolitik internationaler Konzerne gegeben.

Huber: Wir sind Wirtschaftsunternehmen und müssen auch die Ausgaben, die nicht zu einem Medikament führen, verdienen. Die Konkurrenz schläft nicht, und es bleibt oft wenig Zeit, Investitionen wieder hereinzubringen.

Hagenauer: Zur Entspannung bei den Medikamentenkosten kommt es, wenn Patente ablaufen. Da kommt es dann wirklich zu einem Wettbewerb. Daneben führen wir auch Preisverhandlungen mit neuen Anbietern in bestehenden Indikationen.

STANDARD: Bisher haben die Sozialversicherung und die Pharmaindustrie verhandelt. Ende März wurde eine Gesetzesänderung beschlossen. Warum?

Huber: Es hätte kein Gesetz gebraucht. Wir haben seit Jahren einen Rahmen-Pharmavertrag, der gut funktioniert. Es war der Wunsch des Hauptverbandes. Wir sind für die Weiterentwicklung des Systems, jetzt haben wir eine deutliche Verschärfung und eine Sparorgie. Bedauerlicherweise ist das Gesetz zudem ohne Begutachtung im Parlament beschlossen worden.

Hagenauer: 2005 waren fast alle Medikamente im Erstattungskodex – nur zwei Prozent der Ausgaben fielen in der "No Box" an. Heute befinden sich dort mehr als zehn Prozent der Ausgaben, in Summe macht das 298 Millionen Euro. Deshalb bestand Handlungsbedarf. Es gibt einzelne Pharmafirmen, die wollen gar keinen Antrag auf Erstattung stellen, denn dann können sie die Preise selbst bestimmen. Ein ganz aktuelles Beispiel: Eine Firma kauft von einer anderen ein Medikament und geht mit einer Preissteigerung um das 42-Fache in die "No Box".

STANDARD: Das soll das neue Gesetz nun verhindern?

Hagenauer: Die Preise in der "No Box" sind künftig mit dem EU-Durchschnittspreis nach oben begrenzt. Eine Studie der Gesundheit Österreich zeigt, dass in Österreich derzeit die Preise im Durchschnitt um fünf Prozent über dem EU-Durchschnitt liegen.

Huber: Den Durchschnittspreis halten wir für nicht ganz fair, weil Österreich zu den reicheren Ländern in der EU gehört. Mit der Durchschnittspreisregelung kommen wir in einen dauernden Prozess der Preisüberprüfung.

STANDARD: Die Krankenversicherungen erwarten sich dadurch Einsparungen in zweistelliger Millionenhöhe. Wie soll das gehen?

Huber: Durch die neuen Reglungen wird die Industrie jetzt nochmals zur Kasse gebeten – zusätzlich zu den jährlichen Solidaritätszahlungen aus dem Rahmen-Pharmavertrag. Das ist für einzelne Firmen hart. Sachlich gab es keinen Grund, so tief in den Spartopf zu greifen.

Hagenauer: Neben den Preisobergrenzen in der "No Box" haben wir auch neue Regelungen für die Preisbildung von Generika und Biosimilars. Wir haben gerade einen Antrag eines neuen Medikaments mit unglaublich hohen Kosten vorliegen – sollte das in die Erstattung gehen, könnte allein dieses Produkt die Einsparungen aus dem gesamten Paket aufheben.

STANDARD: Das heißt, auch das neue Gesetz kann Mondpreise nicht verhindern?

Huber: Es gibt keine Mondpreise. Wenn es so wäre, müssten in Europa die Sozialversicherungssysteme bereits aufgegeben haben. Wenn man die Rabatte und Solidaritätszahlungen der Industrie richtig darstellen würde, könnten wir sagen, der Arzneimittelbereich ist im grünen Bereich. Das System bilanziert gesund.

Hagenauer: Da sind wir nicht derselben Auffassung, die Gefahr von Mondpreisen gibt es. (Andrea Fried, CURE, 5.9.2017)