Wien – Die Wiener Meldemannstraße, benannt nach dem Nürnberger Kartografen Nikolaus Meldemann, ist vor allem dafür bekannt, dass Adolf Hitler im dortigen Männerwohnheim von 1910 bis 1913 wohnte. Auch die Spitzenkandidatin der Grünen, Ulrike Lunacek, hat hier einen Teil ihrer Kindheit verbracht. DER STANDARD hat einen Streifzug durch die Meldemannstraße gemacht und mit den Anrainern darüber gesprochen, wie es sich heute hier lebt und was sie bewegt.

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Männerwohnheim war Lunacek zu Hause. "Wir wohnten im 20. Bezirk, einem Arbeiterbezirk, wo es nichts, aber auch überhaupt nichts Attraktives für ein junges Mädchen gab. In unserer Straße befand sich ein Männerheim, wo viele Jahre zuvor Hitler gewohnt hatte, als er nach Wien kam. Dort saßen den ganzen Tag die Trinker vor der Tür. Ich fühlte mich eingesperrt im zehnten Stock eines Hochhauses", erzählt Lunacek dem STANDARD.

Das ehemalige Männerwohnheim in der Meldemannstraße wurde 2003 geschlossen und 2009 als Altenheim wiedereröffnet.
Foto: burg

Sommerfrische am Land

Mit neun Jahren ist Lunacek aus Amstetten nach Wien gekommen. Der Vater war Molkereidirektor, die Familie ist oft umgezogen. Zur Volksschule und in das Gymnasium ist sie im zweiten Bezirk gegangen. Erholung von der grauen Stadt gab es für Lunacek gemeinsam mit dem Bruder und der Großmutter auf der Sommerfrische in Lasberg bei Freistadt.

Über das Asyl in der Meldemannstraße 27 schrieb einst die "Berliner Zeitung" kurz vor dessen Schließung im Jahr 2003: "Nirgendwo liegen in Wien Größenwahn und Illusionslosigkeit so nahe beisammen wie in dieser grauen Straße im zwanzigsten Bezirk." Das Männerwohnheim, "wo Abend für Abend all jene eintreffen, die nichts mehr zu verlieren haben, Alkoholkranke, Drogensüchtige, Psychiatriepatienten, die kein Krankenhaus mehr will", sei die "letzte Station des sozialen Abstiegs".

Das Männerwohnheim ist heute ein Altenheim. Das "Seniorenschlössl Brigittenau" hat die stigmatisierende Adresse übrigens hinter sich gelassen, die offizielle Post lässt es sich an die Winarskystraße 13, eine Querstraße der Meldemannstraße, schicken.

"Zu viele Ausländer"

Es ist ein strahlender Sommervormittag in Wien-Brigittenau. Meldemannstraße 13, diese Adresse hat das Stadion des WAF Brigittenau. Mit Sicht auf den Fußballplatz wohnt hier Johanna, 72 Jahre, in einer Genossenschaftswohnung, in der sie sich alles fein eingerichtet hat, wie sie erzählt. Johanna ist mehrmals pro Tag auf der Straße, gilt es doch, ihren Hund "zum Äußerln" zu führen.

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Seit über 40 Jahren lebt die einstige Managerin eines amerikanischen Konzerns hier. Die Gegend habe sich zu ihrem Nachteil verändert. Der Anteil von 53 Prozent Ausländern im Bezirk sei zu viel. Am Abend könne man als Frau nicht weggehen. Das Obdachlosenwohnheim, das hat nicht gestört. Die Männer, die davor standen, "die waren halt betrunken". Sie habe nie Angst gehabt, dort vorbeizugehen.

Am Höchstädtplatz stand einst die NÖM-Fabrik. Heute ragt hier ein Hochhaus, ein Wohnhaus der Sozialbau.

Flucht vor den "Kopftuchweibern"

"Vier- bis fünfmal im Jahr fahre ich in die Steiermark, da sehe ich kein sogenanntes Kopftuchweib mit 17 Kindern hinten nachrennen, die sich nicht benehmen können." Des Weges kommt ein etwa siebenjähriges Mädchen mit zwei kleineren Buben. Ihr Äußeres könnte darauf schließen lassen, dass es sich um Kinder aus einer Zuwandererfamilie handelt.

Freundlich grüßen sie: "Hallo!" Johanna zieht ihren Hund zur Seite: "Hallo. Wos haaßt do hallo?" Ob es für die Kinder hier gut zu leben ist? Johanna lobt die Nachwuchsarbeit des WAF Brigittenau. Wobei: Auch hier seien zu viele ausländische Kinder im Verein. Der Bub der Nachbarin sei weggeschickt worden. "Sie haben ihm gesagt, er ist zu blad."

Sehnsucht nach dem Land

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Wäre Johanna nicht schon so alt, würde sie aufs Land ziehen, sagt sie. Das hat sie mit Silvia gemein. In der Pension will Silvia zurück ins Burgenland gehen. Dort will die 58-Jährige ein kleines Bauernhaus kaufen und ihr eigenes Gemüse anbauen. Mit 28 Jahren hat sie sich von ihrem prügelnden Ehemann verabschiedet und ist aus dem Burgenland in die Brigittenau gekommen. Seither hat sie immer hier gelebt und sich sehr wohlgefühlt "Es ist ruhig, es ist super und sehr grün." Das Männerwohnheim ist auch ihr in Erinnerung. Als Frau alleine hier vorbeizugehen sei sehr unangenehm gewesen.

Warten auf einen Job

Ihr 40-jähriges Berufsleben hat Silvia zumeist als Büglerin in einer Putzerei verbracht. Weil sie wegen ihrer schmerzenden Schulter zu lange im Krankenstand war, wurde sie schließlich von ihrem Arbeitgeber ausrangiert, erzählt sie.

Es ist 10 Uhr vormittags. Silvia hat sich auf einer Bank am Höchstädtplatz niedergelassen. Den Höchstädtplatz könnte man als Mittelpunkt Meldemannstraße bezeichnen, Straßenbahnen und Autos rattern die querende Marchfeldstraße entlang. Hier verarbeitete einst die Molkerei NÖM ihre Produkte, angeschlossen an den Betrieb war ein zehnstöckiges Verwaltungshochhaus.

Auch der Autozulieferer Wabco-Westinghouse hatte hier bis Ende der 1990er-Jahre eine Niederlassung. Die Fachhochschule Technikum Wien sowie ein ein über 83 Meter hoher Wohnturm der Genossenschaft Sozialbau prägen heute das Stadtbild.

Um 8.15 Uhr ist Silvia, wie es das Arbeitsmarktservice Tag für Tag von ihr verlange, bei Itworks Personalservice in der Meldemannstraße 12–14 vorstellig geworden. "Der Betreuer macht nur das Kreuzerl und sagt: 'Sie können schon gehen.' Das ist alles, was er sagt." Itworks ist ein gemeinnütziges Unternehmen, das – unter anderem finanziert vom Arbeitsmarktservice – ältere Arbeitskräfte, Jugendliche und Migranten beim (Wieder-)Einstig in den Arbeitsmarkt unterstützen soll.

Einmal habe sie bereits geputzt. In drei oder vier Wochen soll wieder ein Putztag anstehen. Bis 13.45 Uhr muss die 58-Jährige nun die Zeit überbrücken. Ein dicker Wälzer "Donald Duck", Zeitschriften, die sich mit dem Schicksal von Lady Diana befassen, Zigaretten und eine Wasserflasche sollen das Warten leichter machen. Sie geht spazieren, liest Zeitung, sitzt im Park. Alle heiligen Zeiten leistet sie sich einen Kaffee. Sie muss mit 630 Euro im Monat auskommen, durch das Engagement bei Itworks gibt es 200 Euro drauf, erzählt sie.

Den ganzen Tag blöd schauen

Wenn Silvia nicht kommt, werde ihr das gesamte Geld gestrichen. Was sie und ihre Kollegen den ganzen Tag in dieser Einrichtung tun? "Blöd schauen, essen, Zeitung lesen, rauchen, spazieren gehen."

Gudrun Höfner, Prokuristin der Firma Itworks, bemüht sich im Gespräch mit dem STANDARD, das Bild zurechtzurücken: "Wir beraten, betreuen und vermitteln am Arbeitsmarkt benachteiligte Personen. Die genannte Dame ist so wie 600 andere Personen bei uns beschäftigt, davon sind 400 Personen derzeit in Betrieben im Einsatz. Aus verschiedenen Gründen, etwa aus gesundheitlichen, kann es zu einer Unterbrechung des Arbeitseinsatzes kommen." In diesen Stehzeiten könne die Infrastruktur des Hauses genutzt werden.

Zukunftshoffnung

Es wäre falsch, die Meldemannstraße von heute als einen einzigen Ort der Tristesse zu zeichnen. Da ist zum Beispiel Zeynep. Die 28-jährige türkischstämmige Österreicherin lebt seit 18 Jahren in der Brigittenau. Wegen des Kopftuchs, das sie trägt, sei sie hier noch nie angefeindet worden. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie sich hier ein Leben aufgebaut, auch ihren beiden Kindern gefalle es hier. Sie erzählt, dass sie Kindergartenassistentin ist. Sie passe sehr gerne auf Kinder auf, egal welche Nationalitäten sie haben.

Von der Brigittenau nach Iwoa

Ulrike Lunacek hat mit 16 Jahren einen Weg gefunden, der ungeliebten Meldemannstraße zu entkommen: "Ich wollte hinaus in die Welt, und nichts konnte mich mehr halten. Deswegen ging ich als Austauschschülerin für ein Jahr in die USA." Gelandet ist sie in Boone, Iowa. 13.000 Einwohner, "ein weißes, puritanisches Nest", so Lunacek. Ein Highschool-Kurs über die Salt-Verträge zur nuklearen Rüstungsbegrenzung, Debatten über Watergate und Vietnam hätten sie nachhaltig beeindruckt. Denn im Gymnasium in der Leopoldstadt hatte man damals nicht über solche Dinge gesprochen.

Politisch geprägt hat Lunacek übrigens weniger die Meldemannstraße als ein Trip nach Südamerika 1978. Damals lernte die Dolmetschstudentin in Chile Leute kennen, die sich im Widerstand engagierten, deren Angehörige im Widerstand ermordet wurden.

"Zurück in Österreich war mir klar, mit Dolmetschen allein würde ich mein Leben nicht bestreiten. Die Vorstellung, mein gesamtes Leben lang die Gedanken anderer Menschen durch mein Hirn zu jagen und mich dabei neutral verhalten zu müssen, das ging nicht mehr." (Katrin Burgstaller, 25.9.2017)