Michael Ignatieff will die akademische Freiheit verteidigen. Die Hoffnung auf den Fortbestand der CEU gibt er nicht auf.

Foto: APA/AFP/ATTILA KISBENEDEK

Sympathiekundgebungen für die Central European University (CEU) vor dem Budapester Tunnel. Demonstrationen dieser Art – auch mit deutlich mehr Teilnehmern – gab es bisher viele.

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STANDARD: Sie halten heute, Mittwoch, die Keynote bei den Hochschulgesprächen – und zwar aus gutem Grund: Im vergangenen Frühjahr wurde in Ungarn ein Gesetz beschlossen, das die Central European University CEU zur Schließung zwingen könnte (siehe Wissen). Es gab Hoffnung, dass Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán einlenken könnte. Wie ist der Stand der Dinge?

Ignatieff: Wie Sie wissen, hat es in Ungarn, aber auch in ganz Europa und in den USA massive Proteste gegen das Gesetz und die drohende Schließung gegeben. Unter diesen Vorzeichen begannen Verhandlungen zwischen der ungarischen Regierung und dem Staat New York, wo die Universität akkreditiert ist. Bis heute gibt es kein Ergebnis dieser Verhandlungen, wir haben kein Agreement. Ich bin zwar nach wie vor hoffnungsvoll, aber die Zeit ist knapp. Universitäten haben sich um neue Studenten zu kümmern. Aber mit dem neuen Gesetz dürften wir ab 1. 1. 2018 keine neuen Studenten mehr aufnehmen. Wir stehen nach wie vor mit dem Rücken zur Wand.

STANDARD: Gab es nach all den Protesten gegen das Gesetz irgendeine Reaktion von Orbán?

Ignatieff: Die ungarische Regierung mag es natürlich nicht, wenn die Menschen wegen der CEU auf die Straße gehen. Aber das ist ihr Problem, nicht unseres. Alles, was ich hier mache, ist die Unabhängigkeit einer europäisch-amerikanischen Institution zu verteidigen. Ich mache das, so gut ich kann. Aber ich muss eines klar sagen, weil das viele Menschen falsch verstehen: Wir wollen uns keinesfalls über das Gesetz hinwegsetzen. Wir suchen nach einem Weg, um dem neuen Gesetz zu entsprechen und trotzdem 26 Jahren nach unserer Gründung als eine unabhängige Universität hier zu bleiben.

Video: Michael Ignatieff über Globalisierung, Brexit und Trump.
BBC Newsnight

STANDARD: Es gibt Beobachter der weltpolitischen Lage, die nicht viel Unterschied im Verhalten von Orbán zu jenem von US-Präsident Donald Trump oder Polens Ministerpräsident Jarosław Kaczyński sehen, die ja auch durchaus Probleme mit akademischer Freiheit haben. Denken Sie ähnlich?

Ignatieff: Nein, das mache ich nicht. Der Philosoph Isaiah Berlin sagte einmal: Everything is what it is. Soll heißen: Mit Vergleichen wird man eine schwierige Situation für die Demokratie nicht beschreiben können. Orbán ist nicht Trump, und Kaczyński ist nicht Orbán. Jeder von ihnen hat ein eigenes Verhalten, und sie müssen in ihren Eigenheiten verstanden werden. Sicher, sie sind alle rechtskonservativ, sie schüren alle drei den Nationalismus, dennoch sind sie unterschiedlich, das muss man verstehen, um sie richtig einzuschätzen.

STANDARD: Der March for Science im April dieses Jahres galt als Signal in die Richtung dieser rechtskonservativen Populisten wie Donald Trump oder Viktor Orbán, als Signal an alle, die den Klimawandel für naturgegeben und Impfungen für generell schlecht halten. Nichts gegen dieses Marketingevent, aber hätte die Wissenschaft nicht früher aktiv sein müssen, um nicht so in Bedrängnis zu geraten?

Ignatieff: Das ist leider richtig. Wissenschafter haben die Bedürfnisse jener, die mit ihren Steuern unsere Arbeit ermöglichen, also die Bedürfnisse der breiten Öffentlichkeit, ignoriert. Wir müssen uns auch um die kümmern, die keine Chance haben, auf die Universität zu gehen. Uns wird oft vorgeworfen, eine Elite, eine Gruppe der Privilegierten zu sein. Das heißt aber auch, dass wir alles tun müssen, was wir können, um allen Menschen, nicht nur der gebildeten Bevölkerung, viel besser klarzumachen, was wir tun.

Das heißt, mehr in die Erwachsenenbildung zu gehen, mehr Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Wir sind verletzbar geworden, weil wir diese Privilegien haben und zu wenig getan haben. Die Populisten werfen uns genau das vor. Sie sehen eine Art Selbstzufriedenheit der Professoren. Wir können nicht einfach dasitzen und so tun, als wäre nichts passiert. Wir haben die Wissenschaft zu verteidigen, wir müssen unsere intellektuelle Autorität verteidigen.

STANDARD: Was genau meinen Sie damit?

Ignatieff: Wir sind die Hüter des Wissens und eines wichtigen kulturellen Guts. Unser Job ist es, das den nächsten Generationen weiterzugeben. Das ist das, was ich mit Autorität meine, es ist eine intellektuelle, keine politische Autorität. Wir sollten sagen können, ohne ideologisch zu werden, was richtig und was falsch ist, das ist ein Grund, stolz zu sein.

STANDARD: Viele sagen, die Academia war zu arrogant gegenüber den potenziellen Wählern der Populisten. Können Sie mit diesem Vorwurf etwas anfangen?

Ignatieff: Wenn man uns das vorwirft, dann müssen wir es besser machen, wir müssen besser zuhören und uns der wichtigen Rolle in der Gesellschaft bewusster werden. In Europa war jeder über die Wut erstaunt, die Populisten in England rund um den Brexit oder der Front National in Frankreich geschürt haben. Einige Wissenschafter haben uns gewarnt, dass das kommen wird, andere haben sich aber gewundert, sie haben verabsäumt, neugierig zu sein, zuzuhören, sind in ihren Zimmern gesessen und haben nicht darauf geachtet, wie sich die Welt verändert. Es gibt Ungleichheit, Unsicherheit, Angst. Wissenschafter können das nicht ändern, sie können es aber verstehen und helfen, dafür Lösungen zu finden.

Video: Michael Ignatieff über die Flüchtlingskrise.
Central European University

STANDARD: Was sind die Pflichten für die Zukunft? Sehen Sie besondere Aufgaben auch im Zusammenhang mit den jüngsten Ausschreitungen in Charlottesville?

Ignatieff: Ich kenne Charlottesville. Es ist der Sitz der University of Virginia, die von Thomas Jefferson, dem Autor der Unabhängigkeitserklärung, gegründet wurde. Für ihn waren Universitäten die Zentren der freien Gesellschaft. Er wollte eine Hochschule im Herzen des demokratischen Experiments USA gründen. Deswegen war Charlottesville auch so ein schockierendes Ereignis. Unsere Lehre aus Charlottesville ist: Wir sind mit unserer Aufklärungsarbeit niemals fertig. Österreich ist nicht selbstverständlich ein freies Land, Ungarn oder mein Heimatland Kanada genauso wenig.

Kein Land ist für immer frei, ohne für die Demokratie etwas zu tun. Viele taten so, als wäre dieser Naziaufmarsch etwas Einzigartiges, das ist Unsinn. Diese Gruppierungen gibt es schon sehr lange. Das Neue daran war das vom Präsidenten der USA quasi erteilte Okay, seine Reaktion. Die Universitäten müssten sagen: Nein, da gibt es keine Erlaubnis. Dieser Hass ist ein Hass gegen uns alle.

STANDARD: Sie waren ja Politiker, sind Wissenschafter. Haben Sie nicht das Gefühl, als Präsident der CEU beides zu sein?

Ignatieff: Politiker zu sein, das war ein schwieriger Job. Ich war nicht so erfolgreich damit. Jetzt als Präsident der CEU bin ich sicher keine politische Figur. Ich verteidige nur die Uni, das ist ein intellektueller Job. Ich höre zwar den Vorwurf der ungarischen Regierung, Politik zu machen, aber das ist falsch. Ich versuche einen Weg zu finden, die akademische Freiheit zu verteidigen, gegen eine Politik aufzutreten, die zerstörerisch ist, nicht nur gegen die CEU.

STANDARD: Bereuen Sie Dinge, die Sie als Politiker gesagt oder getan haben?

Ignatieff: Natürlich. Der Mensch lernt aber auch nur aus Fehlern, nicht aus dem, was er richtig gemacht hat.

STANDARD: Sie sind als Politiker für den letzten Irakkrieg eingetreten, weil sie dachten, dass die humanitäre Katastrophe im Irak nach dem Ende von Saddam Hussein beseitigt wäre. Würden Sie das heute als Fehler bezeichnen?

Ignatieff: Mit Sicherheit. Da bin ich vollkommen falsch gelegen.

STANDARD: Was halten Sie als Historiker von Vergleichen der Gegenwart mit den 1930er-Jahren? Viele sehen sich aufgrund der Rechtspopulisten in die Vergangenheit versetzt.

Ignatieff: Ja, viele Menschen fürchten, dass die Zeit nochmal kommen könnte. Ich glaube das nicht. Die Epochen sind unterschiedlich. Diese Katastrophe der 1930er-Jahre war vor allem möglich aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft. Das ist der große Unterschied, wir hatten zwar die Finanzkrise 2007/2008, das war herausfordernd, aber nicht in dem Ausmaß wie damals. (Peter Illetschko, 23.8.2017)