René Metzler nimmt einen frisch gespitzten Bleistift aus seiner Hemdtasche und hinterlässt hauchdünne Buchstaben auf einem gebrauchten Kuvert. Er notiert jede Veränderung am Ufer, einen neuen Betonklotz bei Vitznau, eine abgeholzte Stelle am Fronalpstock. Der Passagier der DS Stadt Luzern, eines der fünf Dampfschiffe auf dem Vierwaldstätter See, durchquert seit seiner Pension mindestens zweimal im Jahr das smaragdgrüne Gewässer zwischen Luzern und Flüelen. Die Betonklötze stören ihn nicht. Er hat sich mit Veränderungen in der Schweiz abgefunden, notiert sie nur, um sein Gedächtnis aufzufüllen. Der pensionierte Bremsexperte der Schweizer Bahn hat beschlossen, die Tage, die ihm bleiben, unterwegs zu verbringen.

Als die DS Stadt Luzern die Rütliwiese passiert, den Ort, an dem Vertreter dreier Kantone den Schwur zur Eidgenossenschaft gegen die Habsburger abgelegt haben, geht Metzler zum Bug des Oberdecks, klippst seine Sonnengläser auf die Brille und beobachtet die Touristen am Steg. "Hier wurde die Schweiz geboren", erzählt der höfliche 83-Jährige seiner Stehnachbarin an der Reling.

Schifffahrt auf der "DS Stadt Luzern" von Luzern nach Flüelen.
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Das Dampfschiff schippert an seiner ältesten Schwester vorbei und lässt zum Gruß eine Portion Dampf ab. Eine Weile später tönt es aus den Lautsprechern: "Zu ihrer Linken sehen Sie in wenigen Minuten die Tellsplatte", dort wird mit einer Kapelle dem Befreiungskämpfer Wilhelm Tell gedacht, der einer Sage nach einen Apfel vom Kopf seinen Sohnes geschossen habe.

Nostalgie auf Lebenszeit

Die "DS Stadt Luzern" legt in Flüelen an und bittet alle Passagiere auszusteigen. Metzler besitzt ein Abonnement der Schweizer Bahn auf Lebenszeit, und weil ihn die Nostalgie völlig geschluckt hat, steigt er gleich in die Gotthardbahn um. Sie schlängelt sich über Brücken und durch Tunnel den Gotthardpass hinauf bis nach Lugano, fast 1000 Höhenmeter. Panoramafenster und ein Fotowagen sollen vor allem asiatische Reisegruppen auf diese Strecke des öffentlichen Fernverkehrs locken. In vier Sprachen erklärt eine Stimme aus den Lautsprechern, was an beiden Seiten des Zuges vorbeirauscht. Für Metzler nichts Neues.

René Metzler an Bord eines Dampfschiffes auf dem Vierwaldstättersee.
Foto: maria von usslar

Der alte Eisenbahner erinnert sich noch gut an die Zeit, als er in Bellinzona Bremstests durchführte, bei einer Steigung von bis zu 28 Promille eine wichtige Aufgabe. Damals ist die Eisenbahn die einzige Möglichkeit gewesen, über die Alpen in die italienische Schweiz zu gelangen oder Güter zu verfrachten. Heute gehört die Gotthardroute zu den vier Alpenkorridoren des europäischen Kernnetzes, deren Bau die EU mit 26 Milliarden Euro fördert und von denen bisher neben dem Lötschbergtunnel nur der Gotthard-Basistunnel seit vergangenem Jahr befahrbar ist. Letzterer ist mit 57 Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt.

Vergnügt schaut Metzler auf endlose Reihen aus Autos, Wohn- und Lastwägen, die ein Stau auf der parallel verlaufenden Autobahn wie Perlen auf einer Schnur zusammenstaucht. Während der Panoramazug über den alten Gebirgsabschnitt Genießern überlassen wurde, soll der neue Basistunnel besonders die Schwerlastentransporte von der Straße auf die Schienen umlenken und damit auch Stau verhindern.

Dreimal um die Kirche im Dorf

Martin Müller war bei der Jungfernfahrt am 1. Juni 2016 als einer von 1.000 Passagieren dabei. Der junge Schweizer fotografiert Züge, Brücken und Tunnel. Sein Kapperl mit der Aufschrift "We love shortcuts" und ein Gotthard-Leiberl beweisen, Müller ist ein Fan.

Jedes zweite Wochenende fährt er aus Horgen mit der Bahn raus und taucht am liebsten von einem Loch ins nächste ab. Der Gotthard ist das durchlöchertste Bergmassiv der Welt. Die Strecke fasziniert Müller aber auch wegen der bewegenden Geschichte des Tunnelbaus, die an den Felswänden projiziert wird. Dafür dreht der Reisebegleiter das Licht im Wagon ab und der Zug entschleunigt.

Einem indischen Paar erklärt er später, auf welcher Seite es sich positionieren muss, wenn es die Kirche von Wassen zwischen den Kehr- und Spiraltunnels fotografieren will, die daraufhin dreimal aus unterschiedlicher Perspektive an dem Zug vorbeisaust.

Trainspotter Martin Müller fährt mit der Panoramabahn durch das Gotthard-Massiv.
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Trainspotting als Sport

Highlight des Verbundsystems ist der "Glacier Express", eine Route zwischen St. Moritz und Zermatt die auf 291 Brücken, mehreren Viadukten und 91 Tunnels fährt und zum Unesco-Welterbe zählt. Für sogenannte Trainspotter wie Martin Müller ein sportliches Unterfangen, weil sie zum Zeitpunkt der stärksten Krümmung die Innenseite der Bahn auf jahrhundertealten Brücken ablichten wollen und dafür vom linken zum rechten und wieder zum linken Fenster springen müssen.

Nichts für Metzler. Der Pensionist ist schon längst ausgestiegen und überträgt daheim seine Skizzen mit Ölfarben auf eine Leinwand. Durch seine präzisen Zeichnungen kann er genau feststellen, wie stark ein Gletscher abschmilzt. Die Zunge des Palügletscher etwa, der hinter der Bahn-Station Alp Grüm thront, hat sich bereits über 660 Meter zurückgezogen und einen Türkis farbenen See hinterlassen, den Metzler bisher noch nicht auf Leinwand festgehalten hat weil er erst seit 2000 existiert.

Zwischen Chur und Lugano unterwegs mit der rhaetischen Bahn.
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Wenn Metzler auf dem 5.196 Kilometer langen Schienennetz unterwegs ist, sieht er nicht nur in die Vergangenheit sondern auch ein wenig in die Zukunft. Und die zeigt neben dem modernen Tunnelbau auch das Gletschersterben. (Maria von Usslar, 11.9.2017)