Oxford – Die Science Fiction hat einen ihrer Giganten verloren: Der britische Autor Brian Aldiss, der das Genre 60 Jahre lang entscheidend mitgeprägt hatte, ist am Wochenende im heimatlichen Oxford gestorben, nur einen Tag nach seinem 92. Geburtstag. Er hinterlässt vier Kinder und sieben Enkel.

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Brian Wilson Aldiss wurde am 18. August 1925 in East Dereham in der Grafschaft Norfolk geboren. Nach seinen Jahren beim Militär begann er zunächst als Buchhändler – die dabei gemachten Erfahrungen ließ er umgehend in seinen ersten eigenen Roman "The Brightfount Diaries" einfließen. Kurz darauf konnte er den Job bereits aufgeben und sich voll und ganz dem Schreiben widmen. Auch später sollte er im Verlauf seiner langen Karriere immer wieder vereinzelt zur Mainstreamliteratur zurückkehren; seine Liebe und der Großteil seines Schaffens galten jedoch der Science Fiction.

Die erste SF-Kurzgeschichte veröffentlichte Aldiss 1955, den ersten Roman (die Generationenschiff-Saga "Non-Stop", auf Deutsch "Fahrt ohne Ende") 1958. Nach einer Reihe weiterer Publikationen konnte er sich von der sogenannten New Wave mittragen lassen, die die Science Fiction ab den 1960ern grundlegend veränderte. Statt der traditionell techniklastigen klassischen SF ging es nun um gesellschaftliche Themen, um Stilexperimente und "innere Reisen".

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Aldiss' Schaffen ist zwar zu vielfältig, um ihn als New-Wave-Autor zu bezeichnen, doch konnte er die neuen Möglichkeiten nutzen. Als kreativer Stilist hatte er sich von Anfang an erwiesen. Den experimentellen Höhepunkt bildete 1969 "Barefoot in the Head" ("Barfuß im Kopf"), das im Stil eines James-Joyce-artigen Gedankenstroms geschrieben ist und das psychedelische Bild eines Europas zeichnet, das mit halluzinogenen Kampfstoffen angegriffen wurde.

Das für die New Wave typische Motiv von Drogen anstelle von Raumschiffen und sonstigen Maschinen als "Transportmittel" findet sich auch in "An Age" ("Kryptozoikum"), dessen Protagonisten ihren Geist in vergangene Erdzeitalter schicken. Eine vergleichbare geistige Reise vollzieht die Hauptfigur des Spätwerks "Harm" ("Terror") von 2009. Und in beiden Fällen unternehmen die Handlungsträger ihre Fluchten aus autoritär gewordenen dystopischen Gesellschaften.

Ökologie und Untergang

Wie ein roter Faden zieht sich die Faszination für ökologische Themen durch Aldiss' Schaffen – ganz unterschiedliche Formen annehmend, aber zumeist mit einer kräftigen Dosis Untergangsstimmung versehen: Sei es die metaphorische Erforschung der Vergangenheit in "Kryptozoikum", die durch eine Nuklearkatastrophe steril gewordene Menschheit in "Greybeard" ("Aufstand der Alten") oder die Düsternis einer umweltverseuchten Erde, die in "Earthworks" ("Tod im Staub") neue Herrschafts- und Besitzverhältnisse hervorgebracht hat.

Besonders exotisch nimmt sich der Zyklus der "Hothouse"-Erzählungen aus den 60er Jahren aus, der unter dem Titel "The Long Afternoon of Earth" ("Der lange Nachmittag der Erde") zusammengefasst und mit einem Hugo Award ausgezeichnet wurde. Das in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Frühwerk zeichnet das melancholische Bild einer fernen Zukunft, in der die letzten Menschen wie Insekten in einem Dschungel gigantischer Pflanzen leben, die buchstäblich bis zum Mond emporgewachsen sind.

Das berühmteste Beispiel für Aldiss' ökologische Schwerpunktsetzung und zugleich sein vermutlich bekanntestes Werk überhaupt ist aber "Helliconia".

Helliconia

Die "Helliconia"-Trilogie erschien von 1982 bis 1985: Ein – für damalige Verhältnisse – extrem umfangreiches Werk mit einem so ausgefeilten Worldbuilding, wie es das im Genre bis dahin noch nicht gegeben hatte. Der titelgebende Planet, der von (nicht-irdischen) Menschen und anderen intelligenten Spezies bevölkert wird, liegt in einem Doppelsternsystem, dessen orbitale Mechanik Helliconia jahrhundertelangen Jahreszeiten unterwirft. Insbesondere der einer Eiszeit gleichkommende Winter wirft die Zivilisationen Helliconias immer wieder zurück und verhindert, dass sie sich über ein spätmittelalterliches Niveau hinausentwickeln können.

Fotos: Triad

Das wird den einen oder anderen unwillkürlich an George R. R. Martins Winterszenario aus "Das Lied von Eis und Feuer" erinnern, und tatsächlich mag "Helliconia" eine Inspiration gewesen sein. Zumal auch Aldiss gerne ironisch mit erzählerischen Konventionen brach: Da reitet etwa ein potenzieller Held zur Verfolgung einer zwielichtigen Figur los ... um schon nach einer Seite von dieser erschossen zu werden, weil sie ein frisches Reittier braucht.

Auch "Helliconia", das auf den ersten Blick als fantasyesker Eskapismus erscheinen mag, ist letztlich aber eine gesellschaftliche Betrachtung: Der in ihrem Jahreszeiten-Zyklus feststeckenden und damit kaum veränderlichen Zivilisation Helliconias stehen dabei die Menschen gegenüber, die den Planeten aus dem Orbit beobachten – sowie jene, die die Übertragungen aus dem System zuhause auf der Erde mitverfolgen. Diese beiden Gesellschaften erleben im Kontrast zu den Planetariern ungeahnte Metamorphosen.

Bis in die Gegenwart

Über mehrere Jahrzehnte hinweg war Brian Aldiss auch in den heimischen Buchhandlungen Stammgast. Als die deutschsprachigen Verlage ab den 90ern ihre SF-Programme zurückzufahren begannen, verschwand er jedoch aus dem Angebot – die Übersetzung von "Harm" bildete 2009 eine rare Ausnahme. Tatsächlich schrieb Aldiss jedoch ungebrochen weiter, sein letzter Roman ("Comfort Zone") erschien 2013 und schildert ganz nah am Puls der Zeit, wie der Bau einer Moschee das beschauliche Leben in Oxford durcheinanderwirbelt.

Indirekt sollte der Genreveteran im neuen Jahrtausend allerdings sein vielleicht größtes Publikum erreichen: 2001 brachte Steven Spielberg den Film "A.I. – Künstliche Intelligenz" in die Kinos, der lose auf Aldiss' Kurzgeschichte "Supertoys Last All Summer Long" von 1969 basiert. Dieser Popularitätsschub entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie, denn Aldiss fand Spielbergs Film "lausig".

Aktiver Mitgestalter des Genres

Abgesehen von seiner Autorentätigkeit, die über 40 Romane und ebenso viele Storysammlungen hervorbrachte, gab Aldiss ab den 1960ern eine Reihe erfolgreicher SF-Anthologien heraus. Als Standardwerk gilt zudem "The Billion Year Spree" ("Der Millionen-Jahre-Traum") von 1973, eine Geschichtsschreibung des Science-Fiction-Genres. 1986 wurde das umfangreiche Werk noch einmal zu "The Trillion Year Spree" ("Der Milliarden Jahre Traum") ausgebaut.

Aldiss war für einige Jahre Präsident der British Science Fiction Association und in einer Reihe weiterer SF-Organisationen engagiert. Zeitlebens war der unter anderem mit Hugo, Nebula und dem Order of the British Empire ausgezeichnete Autor zudem regelmäßiger Gast von SF-Symposien und Conventions. Als die World Science Fiction Convention 2014 in London abgehalten wurde, sang ihm der gesamte Saal ein Geburtstagsständchen.

SF-Kritikerpapst John Clute lobte Aldiss' literarischen Forscherdrang und bezeichnete ihn als einen der produktivsten Autoren mit Substanz. Für Bestseller-Autor Neil Gaiman war er gleichermaßen Gigant wie Gentleman. Und der deutsche Autor und Feuilletonist Dietmar Dath würdigte Brian Aldiss in der "Frankfurter Allgemeinen" als erzählenden Philosophen. (jdo, 23. 8. 2017)