Regisseur Lukas Valenta Rinner drehte in Argentinien.

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Wien – Auf der einen Seite des elektrischen Zauns herrscht strenge Ordnung. Der Rasen schimmert so grün, man mag ihn kaum betreten. Auch die Gläser im Schrank des Hauses müssen eine genaue Symmetrie ergeben. Belén heißt die neue Haushälterin, die in dieser Gated Community die Position einer distanzierten Beobachterin einnimmt. Ungerührt geht sie ihren Pflichten nach, bis ein erster Nackter aus der Nachbarschaft ihre Neugierde weckt. Das angrenzende Nudistencamp ist das Gegenmodell zur Reichenenklave: Diesseits dominieren Vereinzelung und Wettbewerb, jenseits dämmert man im Adamskostüm dahin, bis sich ein lüsternes Rudel bildet.

Im Nudistencamp lockt die vermeintliche Freiheit. Nur die reichen Nachbarn nebenan stören. Eine Szene aus "Die Liebhaberin" mit Hauptdarstellerin Iride Mockert.
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Die Liebhaberin (Los decentes) ist der zweite Spielfilm von Lukas Valenta Rinner. In Argentinien gedreht, gefördert von einem koreanischen Filmfestival, inszeniert von einem Salzburger Regisseur: Für die ungewöhnliche Laufbahn Rinners, der seine Ausbildung in Spanien und Buenos Aires absolviert hat, sind solche internationalen Zusammenhänge ganz selbstverständlich.

Vor allem die argentinische Universidad del Cine, für die man sich nicht bewerben muss, habe ihn geprägt, sagt er im Interview: "Das offene Prinzip der Schule führt weg von dem Denken, man sei der Auserwählte. Es herrscht eine viel größere Pluralität an Stilen und Vorlieben, mehr Experimentiergeist." Anders als auf der Wiener Filmakademie würde man hier auch nicht auf einen bestimmten Markt hingetrimmt.

Nach dem Erfolg von Rinners Debütfilm Parabellum erhielt er eine Einladung für das Jeonju Digital Cinema Project: Jährlich werden von dem koreanischen Filmfestival drei Regisseure mit einem Arbeitsauftrag versehen. Die Auflage lautet, dass alles schnell gehen muss: Binnen acht Monaten muss fertigproduziert sein. Rinner erinnerte sich an ein Nudistencamp namens Palos Verdes in der Nähe von Buenos Aires, das er einmal auf Schauplatzsuche gefunden hatte. "Es ist eigentlich ein Nudisten- und Swingercub, die Leute gehen da zum Grillen hin, um nackt spazieren zu gehen, am Wochenende auch, um Orgien zu feiern: eine komische Mischung."

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Die Geschichte dazu war schnell gefunden, denn in unmittelbarer Nähe befand sich eine Gated Community und es hieß, die nachbarschaftlichen Verhältnisse seien angespannt. Rinner wollte diese Unterschiede ausbauen "und zugleich verwischen". Gemeinsam mit Ana Godoy und Martin Shanly machte er sich daran, ein Drehbuch zu entwerfen, rechnete aber damit, dass der Stoff für die Koreaner zu pikant sein würde. Das Gegenteil trat ein, es gab eine Zusage für 90.000 Dollar.

"Es war immer klar, dass das Projekt ein freies ist", sagt Rinner über die enge Ökonomie heute. "Diese Art von Jazzimprovisation war sehr befreiend: Wir wussten, dass es am Set hunderte Entscheidungen gäbe, die noch nicht vordefiniert sind." Eine besondere Herausforderung bot zudem ein Cast, der zu großen Teilen aus nackten Amateuren bestand. Die körperliche Individualität, fern der Bilder der Sex- und Werbeindustrie, war für Rinner zentral. Der laufende Betrieb des Camps durfte nicht gestört werden. "Es gab dann einen Haufen von Leuten, die fragten, ob sie mitmachen können -- sie dachten, wir drehen einen Porno."

Doch Die Liebhaberin erzählt mit feiner Ironie von einer Metamorphose; davon, wie Belén, die Haushälterin, aus ihrer Rolle langsam heraustritt und ihre Körperlichkeit wiederentdeckt. Die argentinische Theaterschauspielerin Iride Mockert vermag nur durch ihre Haltungen ein anderes inneres Selbstverständnis auszudrücken: gebückt und devot als Hausmädchen, aufrecht und mit offenem Blick jenseits des Zauns. "Plötzlich sieht sie aus wie die Venus von Botticelli", findet Rinner.

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Das Camp bildet bei aller Gegensätzlichkeit zum bürgerlichen Hochsicherheitsbau keine intakte Hippieidylle. "Es gibt noch einen Rest an Hoffnung darin", meint Rinner, "eine Freiheit, die jedoch bereits korrumpiert ist. Der libertinäre Geist ist verwässert."

Das Interesse an Klassengegensätzen, insbesondere an den Abschottungstendenzen der Mittelschicht, erklärt der Salzburger mit seiner eigenen Herkunft. Schon sein Debüt Parabellum sei der Versuch gewesen, die inhärente Gewaltbereitschaft der Mittelschicht in Argentinien zu beleuchten. "Was bei uns abgeschwächt ist, gibt es dort viel polarisierter. Die Oberschicht lebt zwar isoliert, zugleich jedoch in einer Provinz, die zu den ärmsten in Argentinien gehört." Absoluter Luxus neben absoluter Armut, eine gefährliche Mischung. Wie Die Liebhaberin diese Differenzen zur Auflösung bringt, hat eine spekulative, aber auch genuin filmische Note. (Dominik Kamalzadeh, 26.8.2017)