"Bürger Kemal": Oppositionschef Kılıçdaroğlu im Feingerippten.

Foto: haberler.com

Ankara/Wien – Er hat auf den Auslöser gedrückt, ohne lange zu fragen. Und Kemal Kılıçdaroğlu, der den Fotografen in den Wohnwagen eingeladen hatte, sagte auch nichts, so erinnert sich Selahattin Sönmez, der Fotoreporter. Es ist ein schnelles Mittagessen Anfang Juli. Das erste Drittel des Fußmarsches von Ankara nach Istanbul ist geschafft. Kılıçdaroğlu, der 68 Jahre alte Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP, sitzt mit seiner Tochter Zeynep zu Tisch und isst, erschöpft, zufrieden – und im Unterhemd.

Der Bildband mit privaten Aufnahmen des Oppositionsführers während des "Gerechtigkeitsmarsches" im vergangenen Juni und Juli hält nun seit Tagen eine Polemik in Gang. Unanständig und ärmlich sei dieses Bild mit dem Unterhemd, ruft Tayyip Erdoğan immer wieder aus. "Bürger Kemal" hatte das Massenblatt Hürriyet diese Woche getitelt. Es ist nicht Erdoğans Welt im 1.000-Zimmer-Präsidentenpalast in Ankara. Kılıçdaroğlu ist einer von uns, sollte die Botschaft an die Türken sein. Sönmez ist einer der Fotografen von "Hürriyet".

"Ich rede über Gerechtigkeit, Erdogan redet über mein Unterhemd", entgegnete der Oppositionschef trocken auf die Schmähungen. Dass der Bildband mit den durchaus anrührend wirkenden Aufnahmen seines Fußmarsches ausgerechnet diese Woche erschien, ist kein Zufall. Heute, Samstag, beginnt in Çanakkale, im äußersten Westen der Türkei an den Dardanellen, ein mehrtägiger Kongress zum Thema "Gerechtigkeit".

Das Logo der Republikanischen Volkspartei CHP soll dort nicht zu sehen sein. Der "Gerechtigkeitskongress" sei nicht für die Partei gedacht, sondern für die Allgemeinheit im Land, so heißt es bei der CHP in Ankara. Kılıçdaroğlu eröffnet den Kongress am Morgen mit einer Rede, dann folgen bis Dienstag Workshops und Podiumsdiskussionen mit türkischen Bürgerrechtlern, Rechtsexperten – und Politikern. Der "Gerechtigkeitskongress" ist eine Verlängerung der politischen Aktion mit dem drei Wochen langen Fußmarsch: Die sozialdemokratische Kemalisten-Partei CHP will eine breite Mehrheit gegen den autoritär regierenden Erdoğan bauen. Es geht um die Sammlung von Linken, Liberalen, Nationalisten und enttäuschten Erdoğan-Wählern. Knapp 49 Prozent haben bei dem Volksentscheid im April gegen die Einführung einer Präsidialverfassung für Erdoğan gestimmt.

Geheimdienst bei Erdogan

Der ließ in der Nacht zu Freitag zwei weitere Notstandsdekrete veröffentlichen. Nochmals 922 Staatsbedienstete wurden wegen angeblicher Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen entlassen, 57 davon aber wieder eingestellt. Neu gegründet wurde ein Gremium im Präsidentenpalast zur Steuerung aller nationalen Geheimdienste. (Markus Bernath, 25.8.2017)