Charles Baudelaire in einer Woodburytypie von Étienne Carjat, ca. 1862.

Foto: Wikipedia/ Étienne Carjat/ public domain

Wien – Am 31. August 1867, mit nur 46 Jahren, verstarb Charles Baudelaire. Er stammte aus bürgerlichen Verhältnissen, sein Stiefvater Jacques Aupick schaffte es bis zum General und Senator. Doch Baudelaire selbst empfand sich als antibourgeois, als "poète maudit", als ein verfemter Dichter. Das war nicht nur eine künstlerische Attitüde. Denn seine berühmte Gedichtsammlung, die "Fleurs du Mal", die "Blumen des Bösen", fiel in der Erstausgabe von 1857 der Zensur zum Opfer. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft betrafen Gotteslästerung und Beleidigung der öffentlichen Moral.

Die "Blumen des Bösen" erschienen in verschiedenen Fassungen und beinhalten in der Gesamtausgabe 150 Gedichte. Sechs davon mussten aus dem ursprünglichen Band entfernt werden – Baudelaire huldigte in einigen von ihnen der lesbischen Liebe. Doch diese lyrischen Texte waren nicht die einzigen, die Anstoß erregten: "Der Teufel selbst hält die Fäden, die uns führen! / Die abstoßenden Dinge wecken unsern Appetit; / Zur Hölle steigen ab wir täglich Schritt für Schritt / Durch finstren Pesthauch, ohne Grauen zu verspüren."

Mit "Patina" übersetzt

Mit diesen starken Versen beginnt Baudelaires Gedichtsammlung "Die Blumen des Bösen". Hier, in der Neuübersetzung von Simon Werle, zeigt sich gleich eines: Der Übersetzer versucht, Baudelaires Verse so wortgetreu wie möglich ins Deutsche zu übertragen. Damit bleibt sozusagen die "Patina" von Baudelaires Französisch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. Simon Werles Übersetzung ist also keine "modernistische", sie ist aber auch keine, die versucht, Baudelaires Gedichten einen eigenen lyrischen Stempel aufzudrücken.

Das eben zitierte Eingangsgedicht, so der Titel, ist "Dem Leser" gewidmet. Der Dichter steigt mit ihm in die Hölle, lacht das Böse förmlich an. Doch ebendieser Leser staunt nicht schlecht, wenn im nächsten Gedicht Baudelaire für sich und seine Leserschaft Gott anruft. – "Segen" heißt der Text. Will der Dichter damit seine Leser in die Irre führen?! Könnte Baudelaire uns antworten, so würde er vermutlich sagen, dass man den Untertitel, der die erste Abteilung der Gedichte zusammenfasst, ernst nehmen sollte: "Spleen und Ideal".

Der "Spleen" meint eine fixe Idee, die einen gemütskrank machen kann. Die große Schwester des "spleen" ist die "Melancholie". Spleenig-melancholisch ist Baudelaire, weil das Schöne – und Gute – in der modernen Welt dahinschwindet. Und doch hält er am Ideal der Schönheit fest, möge sie vom Himmel oder aus der Hölle kommen: "Von Satan oder Gott, was liegt daran? Engel, Sirene, / Was liegt daran, machst du nur – du samtäugige Fee, / Duft, Rhythmus, Glanz, o meine königliche Schöne! – / Die Welt mir minder öd, die Augenblicke minder weh?"

Flüchtigkeit und Ideal

Charles Baudelaire prägte für seine Dichtung den Begriff der "modernité", die "Modernität". Das ist nicht die "Moderne", die mit ihren Avantgarden das Alte und Überkommene zertrümmern möchte, sondern eine Kunst- und Lebenshaltung, die das Flüchtige des spleenigen modernen Großstadtlebens mit dem Ideal, der Idee verbinden möchte: "Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist." Zufall und Vergänglichkeit sind auch heute allzu vertraute Begleiter unseres modernen Lebens. Doch sehnt man sich angesichts schnell wechselnder und flüchtiger Perspektiven nicht nach einem ideellen Halt – und sei es nur ein vorgestelltes "Unwandelbares"? Vielleicht sind uns ja Baudelaires Verse näher, als wir denken.

Am Schönsten hat Baudelaire die Doppeldeutigkeit der "Modernität" in dem Gedicht "À une passante", "An eine, die vorübergeht", zur Sprache gebracht. Man befindet sich auf einem belebten Pariser Boulevard. Ohrenbetäubender Lärm, Menschenmassen, Gestank umgeben einen. Der Dichter als Flaneur schlendert dahin, da streift ihn flüchtig der Blick einer schönen Dame. – "Geschmeidig, stolz; dem einer Statue glich ihr Bein. / Ich selber sog, verkrampft wie im Bann des Wahns, / Im Himmel ihres Augs, der fahlen Wiege des Orkans, / Die Süße, die berückt, und Lust, die tötet, ein."

Im Flüchtigen des Großstadtgetümmels, wo sich in Sekunden die Wahrnehmung verändert, nimmt der Flaneur die vorbeieilende Schöne wahr und gibt sich dem Ideal hin, indem er die Dame zur "Statue" der Schönheit emporhebt. Doch schon wieder reißt das Flüchtige die Macht an sich, das Ideal wird zum "Spleen", zum Moment der Trauer. – "Woanders, weit von hier! Zu spät! Vielleicht gar nie! / Wohin du fliehst, bleibt mir, mein Ziel dir unerahnt. / O dich hätt ich geliebt – o dich, die es erkannt!"

Brüder im Geiste

Hugo von Hofmannsthal und Georg Trakl sahen in Baudelaire einen Bruder im Geiste. Und an Teilübersetzungen der "Blumen des Bösen" ins Deutsche mangelt es nicht. Stefan Georges Auswahl machte Baudelaires Dichtung im deutschen Sprachraum berühmt. Walter Benjamin wiederum übertrug den Gedichtteil "Tableaux Parisiens" ins Deutsche, also die Abteilung, in der Baudelaire sich auf das Leben in der Seine-Metropole konzentrierte.

George wie Benjamin haben zwar Reim und Rhythmus Baudelaires beizubehalten versucht, fühlten sich aber weniger dem Originaltext verpflichtet. Der Übersetzer und Autor Simon Werle hat sich nun an die Mammutaufgabe gewagt und alle Gedichte der "Fleurs du Mal" neu übersetzt. Man muss festhalten, dass er Erstaunliches geleistet hat: In seiner Übersetzung wird in jedem Gedicht – man könnte sagen: in jedem Vers! – deutlich, wie Baudelaire den künstlerischen wie auch weltanschaulichen Spagat zwischen dem Flüchtigen der modernen Welt mit seiner melancholisch-spleenigen Reflexion und der Sehnsucht nach Ideal und Unwandelbarem zu verbinden trachtete.

Genau das hat Werle sprachlich exakt erfasst. – "La forme d’une ville / change plus vite, hélas ! que le cœur d’un mortel", heißt es bei Baudelaire – und dieser Vers ist uns heute nur zu vertraut: "Noch schneller umgestalten / als Menschenherzen kann sich, ach, die Form der Stadt".

Essays, Kunstkritiken, Poe-Übersetzungen

Charles Baudelaire war aber nicht nur Lyriker, er schuf seine "petits poèmes en prose", seine kürzeren Prosagedichte mit dem Titel "Pariser Spleen". Zudem schrieb er eine Menge Essays und Kunstkritiken. Weniger bekannt ist allerdings, dass er Edgar Allan Poe für die Franzosen entdeckte. Baudelaires Mutter, die im London geboren wurde, brachte ihrem Sohn das Englische bei.

Und so übersetzte Baudelaire unter dem Titel "Unheimliche Geschichten" Poes Erzählungen wie "Der Doppelmord in der Rue Morgue" oder "Der entwendete Brief" ins Französische. Für Baudelaire war Poe ein seelenverwandter Autor, weil auch er literarisch dem Prinzip des "Surnaturalisme", also dem "Übernaturalismus" folgte. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat nun Baudelaires Poe-Übersetzungen von Andreas Nohl ins Deutsche übertragen lassen, mit einigen Texten des französischen Autors zu seinem amerikanischen Kollegen.

Wohltuend politisch inkorrekt

Charles Baudelaire war auch ein scharfzüngiger Essayist. Einige seiner Essays sind nun unter dem Titel "Wein und Haschisch" im Manesse-Verlag erschienen. Freilich geht es da um Drogenkonsum, aber dem Dichter war es als Dandy darum zu tun, so frei wie möglich leben und schreiben zu können: "Manche verargen ihren Geliebten deren Freigiebigkeit. Das sind Geizkragen oder Republikaner, denen die Grundsätze der politischen Ökonomie unbekannt sind. Die Laster einer großen Nation sind deren größter Reichtum." Solche Gedanken klingen heute wohltuend politically incorrect! Leider hat man im Manesse-Band auf wichtige Essays und kürzer formulierte Gedanken Baudelaires zur "Modernität", zum Dandytum und zu seiner Antibürgerlichkeit verzichtet. Lesenswert ist das alles dennoch.

Und eine wunderbar poetisch-kulinarische Idee des Dichters ist im Band vermerkt: "Was wäre daran im Übrigen erstaunlich, wenn man bedenkt, dass jeder gesunde Mensch zwei Tage ohne Nahrung auskommen kann – aber niemals ohne Dichtung?" Eine Nahrung der besonderen Art ist Baudelaires Lyrik – "Die Blumen des Bösen" – heute wie vor 150 Jahren: Der Reim erzeugt heftigen Gaumenkitzel, schwere Düfte lösen sich mit leicht frivolen Parfums ab, kräftige Wortweinsaucen laden ein, genüsslich ins Fleisch der Poesie zu beißen, das Ganze ist scharf angerichtet voll rhythmischer Süße. Bon appétit! (Andreas Puff-Trojan, 31.8.2017)