Der Unabhängigkeitstag Indiens am 15. August 1947 markiert eine Sternstunde in der Geschichte Südasiens und der Welt. Doch das Ende der rund zweihundertjährigen britischen Kolonialzeit bedeutete auch die traumatische Teilung in zwei Staaten, Pakistan und Indien. Ein Ereignis, das die Gründergeneration Pakistans bejubelte, die indische Kongresspartei betrauerte und Hindunationalisten niemals akzeptierten. Eines war klar: Seit dem 15. August 1947 war die Entkolonisierung in ganz Asien und Afrika nur mehr eine Frage der Zeit. Bis 1962 war sie fast überall vollzogen.

Bis zu seinem Tod 1964 blieb der heute von BJP-Kreisen heftig angefeindete Jawaharlal Nehru der unanfechtbare Landesvater des unabhängigen Indien. Der politische Ziehsohn des 1948 ermordeten Mahatma Gandhi regierte Indien fast 17 Jahre lang, wurde wichtiger Impulsgeber für den antikolonialen Kampf und Mitbegründer der Blockfreien-Bewegung.

Die Kongresspartei baute er von einer mehr oder weniger charismatischen Bewegung zu einer straff organisierten Partei um, die über Jahrzehnte die mächtigste politische Kraft des asiatischen Landes blieb.

Das von Großbritannien ererbte Mehrheitswahlrecht, das für eine dominierende Partei vorteilhaft und für kleine Parteien extrem nachteilhaft sein kann, sowie die Zersplitterung der Opposition verschafften der Kongresspartei zunächst bequeme Mehrheiten im nationalen Parlament und in einer großen Zahl der Landesparlamente. Darüber ging vergessen, dass die konservative und pro-hinduistische Jan Sangh-Partei, auch wenn die Zahl ihrer Sitze in den Parlamenten meist unter zehn Prozent blieb, teilweise weit über 20 Prozent der Stimmen einfahren konnte.

Nehru und seine Partei waren sozialistisch und zentralistisch orientiert. Importprodukte wurden mit hohen Zöllen und allerlei Einfuhrrestriktionen belegt, um die Produktion im eigenen Land zu ermuntern.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein großer patriotischer Sprung nach vorne? Indien unter Premier Narendra Modi gibt sich weltoffen und modern, aber der Hindunationalismus ist im Vormarsch.
Foto: AP/Aijaz Rahi

Diese Politik führte auch Nehrus Tochter Indira Gandhi (nicht mit Mahatma Gandhi verwandt) weiter, die das Land von 1966 bis 1977 und von 1980 bis 1984 regierte. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht Anfang der 1970er Jahre konnte sie mit der Kongresspartei und auch mit Indien faktisch schalten und walten, wie sie wollte. Sie stellte sich als die einzige zuverlässige Bewahrerin des indischen Säkularismus dar – während ihr stets ihr persönlicher Astrologe zur Seite stand. Ihre GegnerInnen verurteilte sie als "Kommunalisten", als Menschen also, die sich vor allem anhand von religiösen, kastenmäßigen oder ethnischen Gruppeninteressen definieren.

Nach dem Unfalltod ihres Sohnes Sanjay 1980 baute Indira ihren anderen Sohn Rajiv Gandhi als Kronprinz der Nehru-Gandhi-Dynastie auf. Als Indira Gandhi 1984 einem Attentat von zweien ihrer eigenen Sikh-Leibwächter zum Opfer fiel, musste dieser verfrüht als Nachfolger in das Amt des Premierministers aufrücken.

Rajiv war gerade einmal 40 Jahre alt und politisch unerfahren, doch viele Menschen in Indien sahen in ihm einen unverbrauchten Vertreter einer neuen, visionären Generation. Er sprach von Indiens Weg ins 21. Jahrhundert, von Computern, von Abwasserreinigung und von der Autoindustrie.

Aufstieg des Hindunationalismus

Das Scheitern Rajiv Gandhis (er war 1984 bis 1989 Premierminister und starb im selben Jahr bei einem Selbstmord-Anschlag) im Dschungel der Intrigen und Korruptionsaffären seiner Kongresspartei bereitete den Boden für den Aufstieg hindunationalistischer Kräfte. Nach und nach wurde die Bharatiya Janata Party (BJP) zur bedeutendsten Partei Indiens. Der klare Wahlsieg der BJP und ihres Spitzenkandidaten Narendra Modi bei den nationalen Parlamentswahlen 2014 dürfte vermutlich das Ende der Machtentfaltung der Kongresspartei und damit der Nehru-Gandhi-Dynastie an der Spitze der indischen Union markieren.

Modi hatte zuvor dreizehn Jahre lang den westindischen Bundesstaat Gujarat regiert – wirtschaftlich mit nicht ganz unumstrittenem Erfolg. Menschenrechtsorganisationen geben ihm die Mitverantwortung für die schweren Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat 2002, bei denen mehr als 1.000 Menschen starben, vor allem Muslime.

Bild nicht mehr verfügbar.

Indien, hier bin ich! Narendra Modi, seit 2014 Premierminister (hier auf einem Foto vom Unabhängigkeitstag 2015 in Delhi), scheint in den nächsten Jahren alle Zügel fest in der Hand zu halten.
Foto: REUTERS/Adnan Abidi

Einerseits gibt sich Modi als weltoffener Modernisierer, der sich von kleinsten Verhältnissen hochgearbeitet hat, doch gleichzeitig ist er "Pracharak" (Missionar) der radikalen Hindu-Miliz Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), der er seit Anfang der 1970er Jahre angehört. Der RSS gibt sich nach außen als geschlossene Front, interne Interessengegensätze sind schwer zu durchschauen.

War die von Modi persönlich lancierte Ernennung des Landtagsabgeordneten Yogi Adityanath im März 2017 zum Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundesstaats Uttar Pradesh ein geschickter Schachzug gegenüber den Radikalen in seiner eigenen Partei? Die antimuslimischen Hasstiraden des hinduistischen Würdenträgers führten angesichts seiner Ernennung bei ausländischen BeobachterInnen zu blankem Entsetzen, doch das Volk scheint ihn zu mögen. Im Zölibat Modis und Adityanaths sehen viele Menschen eine Quelle ihrer enormen Arbeitsleistung und politischen Gestaltungskraft.

Erstaunlicherweise stimmen selbst Muslime für die BJP – insbesondere Frauen. Sie sind die Betonfraktion der Konservativen in ihrer eigenen Gemeinschaft leid, die vor allem die dringend angesagte Reform des indischen muslimischen Familienrechts blockiert. Die BJP verweist gerne auf die Muslime in ihren Parteigremien. So ist etwa Mobashar Jawed "M.J." Akbar, einer der prominentesten Journalisten Indiens, seit 2014 in der BJP und seit 2016 Mitglied im nationalen Kabinett. Er verkündete schon im Wahlkampf 2014, dass er mit dem Koran in der einen und dem Laptop in der anderen Hand Indien modernisieren will und deswegen Narendra Modi unterstützt.

Seitdem die BJP an der Macht ist, werden landauf landab Posten und Pöstchen mit handverlesenen KandidatInnen mit der richtigen hindunationalistischen Gesinnung besetzt.

Die Postenvergabe nach Gesinnungsprüfung ist an sich nichts Neues. Auch die Kongresspartei hatte systematisch ihre Leute protegiert. Neben den Überzeugungstätern produziert das System auch in großer Zahl Opportunisten. Dabei macht sich, wie der Historiker Ranajit Guha schon vor einigen Jahren als Problem des politischen Diskurses im rechten Lager analysiert hat, die zahlenmäßige Schwäche der rechtsgerichteten Intellektuellen in Indien bemerkbar.

Gegen die offene Gesellschaft

Wenn sich heute linksgerichtete Intellektuelle öffentlich äußern, müssen sie mit gezielt inszenierten Schmutzkampagnen rechnen. Angesichts der Stärke der hindunationalistischen Organisationen auch unter den Studierenden ist verständlich, dass die Scheu wächst, sich zu exponieren. Besonders der Vorwurf der antinationalen Gesinnung ist ein Totschlagargument, das in den vergangenen Jahren gezielt zum Einsatz kommt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Aufmarsch und Gelassenheit: Unter Beobachtung eines Fahrradfahrers marschiert im Oktober 2016 in Mumbai die hindunationalistische Miliz RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) auf.
Foto: REUTERS/Shailesh Andrade

Doch was ist antinationale Gesinnung? Ist antinational, wer Verständnis für das Leiden der Bevölkerung im nach wie vor umkämpfen Kaschmir äußert? Ist antinational, wer die atomare Aufrüstung Indiens kritisiert? Ist antinational, wer den in hindunationalistischen Kreisen verbreiteten Slogan "Bharat mata ki jay" ("Sieg der Mutter Indien!") nicht mitvollziehen will? Ist antinational, wer beim behördlich vorgeschriebenen Yoga in der Schule den Sonnengruß nicht mitvollzieht? Diese Fragestellungen werfen ein Schlaglicht auf die Wellenlänge der Deutungsdiskurse. Oft geht es lediglich um symbolische Politik, von der sich viele Intellektuelle angeekelt abwenden.

Doch die Herausforderung geht noch weiter und tiefer. Sie schließt einen regelrechten Kulturkampf ein, der die Zeit der islamischen Herrschaft zwischen dem 12. und dem 19. Jahrhundert als Verfallsgeschichte sieht. Der vielleicht wichtigste und populäre Vordenker in diesem selbst erklärten Abwehrkampf gegen die vermeintliche Zerstörung indischer und hinduistischer Identität ist Rajiv Malhotra, ein Vertreter der Hindu-Diaspora in den USA.

Sein Hauptwerk "Breaking India: Western Interventions in Dravidian and Dalit Faultlines" behauptet auf 650 Seiten einen dramatischen Befund im Hinblick auf die nationale Sicherheit des gegenwärtigen indischen Staates. Die Hauptakteure: Pakistan (Islamismus), China (Maoismus) und ein westliches Netzwerk, das eine separate Identität der Dalit und der "Draviden" Südindiens konstruiere und fördere.

Dieser Gefahr stellt Malhotra einen Diskurs gegenüber, der auf dem Postulat einer "gemeinsamen Identität" beruht und an dieser gemessen werden soll. Im BJP-Parteiprogramm heißt dies "Kultureller Nationalismus" oder auch "Integraler Humanismus". Kernpunkt der Sache ist die Behauptung, genau zu wissen, was authentisch indisch sei und was nicht.

Was ist "indisch"?

Die an sich legitime Frage danach, was eine authentische indische Identität ausmacht, begleitet praktisch alle Modernisierungsdiskurse in Indien. Gibt es eine eigenständig indische Form von Modernisierung, die auf eigene kulturelle Ressourcen zurückgreifen kann? Das Problem ist, dass die Räume immer kleiner werden, in denen Identitätsfragen jenseits kulturkämpferischer Polemik offen diskutiert werden können.

Den im Hintergrund aktiven hindunationalistischen Organisationen, insbesondere dem mächtigen RSS, geht es um den langfristig angelegten Zugriff auf akademische Institutionen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten werden gleichgeschaltet.

Bild nicht mehr verfügbar.

Nachlesen, was es Neues gibt: Die indische Mittelschicht setzt auf Bildung. Noch nie haben so viele InderInnen Schulbildung erhalten und studiert wie heute.
Foto: APA/EPA/PIYAL ADHIKARY

Insbesondere im mit fast 200 Millionen EinwohnerInnen bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh verbreiten die sogenannten "Anti-Romeo-Squads" Angst und Schrecken. Dies sind hindunationalistische Gruppen von jungen Freiwilligen, die oft im Beisein der Polizei junge Pärchen auf den Straßen wegen angeblich unethischen Verhaltens zur Rede stellen oder gleich verprügeln. Romantische Liebesbeziehungen ("Romeo und Julia") haben in der von ihnen imaginierten Hindu-Zivilisation ebenso wenig Platz wie bei den Taliban. KritikerInnen geben zu Recht zu bedenken, dass der Gott Krishna, würde er heute zusammen mit seiner Gespielin Radha in Nordindien auftauchen, sogleich von den Anti-Romeo-Squads drangsaliert würde. Hindunationalisten projizieren die Ursachen der sexuellen Belästigung in die Verwestlichung und den Individualismus indischer Frauen.

Wachstum

Alles wächst in Indien ins Unermessliche – die Metropolen, der Verkehr auf den Straßen, die Menschenmassen an öffentlichen Plätzen, Pilgerorten und Bahnhöfen. An den Oberläufen der Flüsse entstehen riesige hydroelektrische Verbundanlagen, für die ganze Landschaften umgestaltet werden. Die Städte werden durch immer mehr Verkehrsüberführungen, rücksichtslose bauliche Verdichtung und immer höhere Gebäude verunstaltet.

Vielerorts herrscht ein ungeheurer Lärm und Dreck, die Wasserläufe sind zu stinkenden Kloaken degradiert, die Luftverschmutzung erreicht vor allem im Winter vielerorts regelmäßig lebensgefährliche Werte.

Gegenmaßnahmen greifen kaum – weil sie nicht nachhaltig sind, weil sie schlampig durchgeführt werden oder weil der exponentiell wachsende Verkehr alle Fortschritte gleich wieder zunichtemacht. Immerhin sind in Delhi und in anderen Metropolen in den vergangenen 20 Jahren sehr effektive öffentliche Transportmittel entstanden, die beweisen, dass es auch anders geht.

Erfolgsgeschichte Bildung

Die Armut jedoch verschwindet nicht – im Gegenteil, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Wenigstens ist die Ausbreitung von Bildung eine Erfolgsgeschichte. Noch niemals in Indiens Geschichte haben so viele Menschen eine grundlegende Schulbildung erhalten, und noch niemals haben so viele Menschen studiert. Die Mittelschicht ist bereit, einen erheblichen Teil des Nettoeinkommens in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren und glaubt trotz aller Probleme, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden.

Ganz anders als in Pakistan, dessen Intellektuelle ihrem eigenen Land gegenüber im Grund ihres Herzens oft tief pessimistisch eingestellt sind, ist der Fortschrittsoptimismus in Indien ungebrochen. Das greift die BJP auf. Mit dem Slogan "Sabka vikas", "Entwicklung für alle", gewinnt Narendra Modi seine Wahlen. Seine Partei sieht sich in der Rolle der Modernisiererin, die gleichzeitig an die angeblich goldene Epoche Indiens in der Antike anknüpfen möchte.

Die Kongresspartei ist abgewirtschaftet und besteht hauptsächlich noch als Wahlverein für Rahul Gandhi, den wenig charismatischen Kronprinzen der Nehru-Gandhi-Dynastie. Die Hoffnungen, dass sich die 2012 aus der Antikorruptionsbewegung entstandene Aam Admi Party ("Partei der kleinen Leute") zu einer unionsweiten Oppositionspartei entwickeln könnte, sind inzwischen bescheiden geworden. Dabei hat sie sich in der Landesregierung in Delhi nicht schlecht geschlagen, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

Mächtiger Modi

Narendra Modi hat so viel Macht wie Indira Gandhi in ihren besten Tagen. Er kann Ministerpräsidenten aussuchen und einsetzen, er kann sich Entwicklungserfolge auf seine Fahnen schreiben und er darf sogar Opferbereitschaft einfordern.

Im Übrigen kann er sich im Glanz einer Nation sonnen, deren Erstarken die Welt mit Sympathie verfolgt – sei es als Urlaubsland oder spiritueller Hafen, sei es als Supermacht, die China in seine Grenzen weisen kann, sei es als Abnehmer westlicher Exportprodukte oder ausländischer Direktinvestitionen. Es gibt derzeit keinen Politiker von Format, der es mit Modi aufnehmen könnte. Alles deutet auf seine Wiederwahl 2019 hin. Fragt sich nur, welche Karte er langfristig angesichts dieser scheinbar unanfechtbaren Stellung ausspielt: Die der wirtschaftlichen Liberalisierung oder eher die des Hindunationalismus.

Beide Alternativen setzen sich jedenfalls klar von Jawaharlal Nehru und den meisten anderen Vätern (und wenigen Müttern) der indischen Unabhängigkeit ab, für die Verteilungsgerechtigkeit, Antikolonialismus und friedliche Entwicklung ganz oben auf der Agenda standen. (Heinz Werner Wessler, Südwind-Magazin, 4.9.2017)