Tommy Lachs (links) und John Sailer, als Kleinkinder auf dem "Flüchtlingstrail".

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Ein Gedankenexperiment: Praktisch die gesamte kritische und künstlerische Intelligenz fast des gesamten deutschsprachigen Raumes muss flüchten, um Verhaftung, Folter und Tod zu entgehen. So gut wie alle Dramatiker, Romanciers, Lyriker, Kabarettisten, Journalisten, Publizisten, Feuilletonisten, Verleger, Filmemacher, Philosophen, Maler, aber auch Juristen, Wirtschaftsexperten, Lehrer und Hochschullehrer müssen weg. Auf abenteuerlichen Wegen, oft um Haaresbreite, entkommen sie den Verfolgern und können sich ins Exil retten. Viele, sehr viele können das nicht.

Heute undenkbar, oder? Vor fast 80 Jahren war es aber brutalste Realität. Herbert Lackner, Ex-Chefredakteur des Magazins Profil und ausgewiesener historischer Journalist, zeichnet in seinem neuen Buch Die Flucht der Dichter und Denker nach, "wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen".

"Prozession der Verfolgten"

Die Geschichte und die Geschichten sind in großen Zügen bekannt. Nach dem Fall von Frankreich flohen dutzende, hunderte deutsche und österreichische Intellektuelle, die sich bereits im französischen Exil befanden, vor den heranrückenden deutschen Truppen (vor SS und Gestapo) zuerst nach Südfrankreich, dann nach Spanien und Portugal. Von dort mit einigem Glück in die USA. Es waren sehr viele jüdische Deutsche und Österreicher darunter, aber bei weitem nicht nur. "Angesichts dieser einherziehenden Prozession von Verfolgten war einem klar, dass der Katalog der möglichen Gründe der Verfolgung das gesamte Alphabet abdeckte: von A wie Austrian Monarchist bis Z wie Zionist Jew." (Arthur Koestler)

Die Nazis jagten und verjagten einen Großteil der geistigen Elite. Die Namen sind heute nicht mehr so prominent wie ehedem, aber immer noch Fixsterne des Geisteslebens: die Schriftsteller Heinrich Mann (Bruder von Thomas Mann), Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Alfred Döblin, Franz Werfel mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel, Friedrich Torberg, Alfred Polgar, Anna Seghers, die Populärkomponisten Robert Stolz und Hermann Leopoldi. Dazu viele weniger bekannte Persönlichkeiten, wie Karl Hans Sailer, Redakteur der Arbeiter-Zeitung, und Ernst Lachs, Jurist im Wiener Magistrat.

Per Schiff nach New York

Ihre Familien konnten 1940 auf dem letzten Schiff, der Nea Hellas, von Lissabon nach New York entkommen, die Söhne Tommy Lachs und John Sailer kamen zurück, der eine wurde ein bekannter sozialdemokratischer Wirtschaftsfachmann und Nationalbank-Direktor, der andere ein bekannter Galerist für zeitgenössische Kunst.

Herbert Lackner hat die beiden, die als Kleinkinder die Flucht mitmachten, interviewt. Für die Ungeheuerlichkeit der Ereignisse damals nur zwei Zitate. Sailer: "Meine Familie ist mit hunderten anderen zuerst nach Paris gegangen, von dort auf dem Flüchtlingstrail nach Montauban und Marseille und schließlich über Lissabon in die USA."

Lachs: "Mein Vater hat es bis zu seinem Tod nicht verwunden, dass es ihm nicht gelungen ist, seine Eltern zu retten. Mein Großvater ist in Theresienstadt gestorben, meine Großmutter wurde in Auschwitz umgebracht."

"Flüchtlingstrail". Was Lackner nachzeichnet, ist kaum mehr nachzuvollziehen. Die überstürzte Flucht auf überfüllten Ausfallstraßen von Paris – oder von französischen Internierungslagern – nach Süden, oft unter deutschen Luftangriffen, der Kampf um "Papiere" – Einreise, Ausreise, Aufenthalt -, vor allem aber die quälende existenzielle Angst: Werden uns die deutschen Kolonnen einholen? Werden die französischen Behörden hilfsbereit sein, gleichgültig, feindselig (oder alles zugleich)? Wie sehr arbeiten die faschistischen Spanier und Portugiesen mit den Deutschen zusammen?

Absurdes, Solidarität, Hilfe

Dazwischen Absurdes: In der französischen Kleinstadt Sanary-sur-Mer an der Côte d'Azur bestand eine Zeitlang eine "Enklave der Stars" (Lackner). Berühmtheiten wie das Ehepaar Werfel lebten in dieser Künstlerkolonie, bis es hieß: weg, nur weg, zu Fuß über die Pyrenäen. Wie der herzkranke Werfel, seine auch nicht sportliche Frau Alma oder der greise Heinrich Mann das überstanden, ist ein Rätsel.

Es gab Solidarität, aber auch Dünkel unter den Schicksalsgenossen: "Ich lebe momentan in einem jüdisch-kommunistischen Klüngel, zu dem ich nicht gehöre", schrieb die zweimal mit Juden verheiratete katholische Antisemitin Alma Mahler-Werfel ins Tagebuch. Und Alfred Polgar notierte: "Diese Vielzahl an Leidensgenossen ist kein Trost für mich. Ich war mein Lebtag so ungern in der Herde."

Ohne Hilfe von außen wäre nichts gegangen. In den USA bildete sich ein Hilfskomitee, sein Abgesandter Varian Fry "besorgte", ausgestattet mit vielen Dollars, die notwendigen Pässe und Papiere. Für viele, keineswegs für alle. Die Schicksale, die Herbert Lackner da gerafft und packend erzählt, reichen für einige Tragödienzyklen. Und sie machen nachdenklich: So wird es nicht wieder werden in Europa, aber etwa in Russland wurde soeben ein berühmter Regisseur verhaftet, in der Türkei gibt es Massenverhaftungen unter der Elite, und aus Ungarn hat schon ein Exodus der Intelligenz begonnen. (Hans Rauscher, 9.9.2017)