Foto: APA/AFP/FILIPPO MONTEFORTE

Die Filmfestspiele von Venedig sind nicht nur die ältesten, sondern auch die ehrwürdigsten ihrer Art. Das merkt man vor allem, wenn der laute Festivaltross wieder abgereist und am Lido wieder Ruhe einkehrt ist. Auf der schmalen Insel vor der Lagunenstadt bleibt dann nämlich etwas zurück, was diesen Festivalort von vergleichbaren Schauplätzen unterscheidet: seine historische Atmosphäre.

Nur wenige Kilometer vom Palazzo del Cinema entfernt, wo allabendlich US-amerikanische Stars wie George Clooney, Jennifer Lawrence oder Kirsten Dunst auf dem roten Teppich ihre jüngsten Filme bewarben, liegt etwa der jahrhundertealte, überwucherte jüdische Friedhof. Und das bereits verfallene Grand Hotel des Bains, das Thomas Mann zu seinem "Tod in Venedig" inspirierte und Luchino Visconti für seine gleichnamige Verfilmung als Schauplatz diente, wartet seit Jahren auf seine Wiedereröffnung.

Betont realistisch

Es mag also verwundern, dass sich ausgerechnet das geschichtsträchtige Venedig, neben Cannes das wichtigste Filmfestival der Welt, heuer besonders progressiv gab. Das betraf nicht nur den erstmalig ausgeschriebenen Wettbewerb von Virtual-Reality-Produktionen, die auf der mit ihrer dunklen Vergangenheit belasteten Pestinsel Lazzaretto Vecchio präsentiert wurden. Überhaupt bewies man in Sachen digitaler Zukunft einen betont realistischen Blick: So griff Leiter Alberto Barbera die vor wenigen Monaten in Cannes hochgeheizte Diskussion rund um das dortige Verbot von Internetproduktionen auf, indem er klar feststellte, dass auch von Streamingdiensten produzierte Arbeiten selbstverständlich ihren berechtigten Platz auf der Kino leinwand hätten. Und so lancierte Netflix neben seiner Mafiareihe "Suburra" auch gleich seine neue Miniserie des oscarprämierten US-Dokumentarfilmers Errol Morris, der in "Wormwood" dem 1953 unter mysteriösen Umständen verstorbenen CIA-Mitarbeiter und Biochemiker Frank Olson (Peter Sarsgaard) nachspürt. Amazon wiederum sicherte sich mit Human Flow des chinesischen Starkünstlers Ai Weiwei über globale Migrationsbewegungen die Verwertungsrechte eines – allerdings völlig missglückten – Wettbewerbsfilms.

In seiner täglich erscheinenden Festivalzeitung unterhielt Barbera überdies eine kleine Kolumne, in der er sich pointiert zu Wort meldete. "Do the right thing", titelte er jene, in der er die Auswahl des ansonsten auffallend starken Wett bewerbs erläuterte. Man dürfe die Macht von Festivaldirektoren bei ihrer Programmierung nicht überschätzen, so Barbera, denn in Wahrheit suche sich öfter der jeweilige Film sein Festival. Die Kunst der Auswahl bestünde indes in der richtigen Mischung: Neben den großen Namen, die eine Großveranstaltung wie Venedig einfach brauche, gelte es, weniger bekannte Autoren und Debütanten zu präsentieren. Tatsächlich waren von den 21 Wettbewerbsfilmen gleich fünfzehn Regisseure zum ersten Mal am Lido vertreten.

Angst und Paranoia

Das gilt auch für Guillermo del Toro, der mit seinem fantastischen Märchen "The Shape of Water" schließlich völlig verdient den Goldenen Löwen gewann und sich damit auch als Oscarfavorit positionierte. Del Toro erzählt dar in die Geschichte einer stummen Putzfrau (Sally Hawkins), die in einem geheimen US-Forschungslabor arbeitet, wo ein mysteriöser Amphibienmann zu Versuchszwecken gefangen gehalten wird. Der Weg in die Freiheit führt natürlich über die Liebe. Angesiedelt in den frühen 1960er-Jahren, bestimmt das Klima des Kalten Krieges die Atmosphäre des Films, den del Toro auch als Blick auf die amerikanische Gegenwart verstanden haben will.

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Glücklicher Zufall oder Barberas glückliches Händchen: Dass sich im Verlauf des Festivals wiederholt thematische Verbindungen zwischen den Arbeiten ergaben – selbst zwischen so unterschiedlichen Filmautoren wie Morris und del Toro – , war jedenfalls auffällig und durchaus als beängstigende Bestandsnahme zu verstehen. Denn die Mehrzahl der Filme übte sich nicht gerade in Optimismus: Drohende Umweltkatastrophen und Paranoia dominierten den Blick in Alexander Paynes schwarzer Komödie "Downsizing" ebenso wie in Paul Schraders formidablem Pastorendrama "First Reformed" und Darren Aronofskys Höllentrip "Mother!". Für die Zukunft Venedigs allerdings wurden erwartungsfroh die Weichen gestellt. (Michael Pekler, 9.9.2017)