Zum vierten Mal verbringt die Studentin Lisa Grabner ihren Sommer als Kuhhirtin – ohne Anschluss an das Stromnetz.

Vanessa Gaigg

Ihre Aufgabe ist, sich um 56 Kühe zu kümmern.

Vanessa Gaigg

Als Luxus gibt es heuer einen Zuber zum Baden.

Vanessa Gaigg

Geflochtene Zöpfe hat Lisa Grabner eigentlich nie. Aber man passt sich bekanntlich immer ein wenig seiner Umgebung an und die ist in Grabners Fall derzeit ziemlich urig: Schon das vierte Jahr in Folge verbringt die Studentin ihren Sommer allein auf einer Alm im Salzburger Lungau. Dauerhafte Gesellschaft leisten ihr lediglich 56 Kühe und ungefähr hundert Schafe, wobei auf Erstere achtzugeben ihr Job ist. Die Zivilisation in Form einer anderen bewirtschafteten Alm beginnt erst nach einem Fußmarsch von ungefähr eineinhalb Stunden. Um in das dazugehörige Dorf Lessach zu gelangen, muss man von dort noch einmal ungefähr sieben Kilometer zurücklegen.

Grabner, die kurz vor ihrem Abschluss in Anglistik an der Universität Wien steht, ist Teilzeithirtin: Mehrere Wochen im Jahr trägt sie die Verantwortung für die Kühe, die von ihren Bauern auf Sommerfrische in die Berge geschickt werden. Ihr Reich erstreckt sich über 600 Hektar – bestehend aus Wiese, Felsen und Wald. 26 Hektar machen allein die drei Landschitzseen aus, von denen einer direkt bei der Almhütte liegt. Das Gebiet gilt unter Wanderern als Geheimtipp, die Hütte Grabners befindet sich auf knapp 1.800 Metern. Sobald der Schnee oben liegenbleibt – das ist meistens Anfang oder Mitte September -, treibt man die Kühe wieder in ihr Winterquartier.

Auszeit auf der Alm

Wie verschlägt es eine 28-jährige Wienerin auf eine einsame Alm? "Ich war auf der Suche nach einem neuen Abenteuer", sagt Grabner. "Wenn es im Leben gerade nicht so gut läuft, soll man Neues ausprobieren. Damit man gefordert ist." Neu war die Erfahrung für Grabner auf jeden Fall: In Linz aufgewachsen und seit fast zehn Jahren in Wien, waren die bisherigen Berührungspunkte mit ländlichem Leben überschaubar. Auf der Alm holt sich Grabner jährlich die volle Dosis ab: Wasser gibt es nur eiskalt aus der Quelle direkt vor der Tür. Strom, der mithilfe eines kleinen Solarpaneels gewonnen wird, steht nur sehr begrenzt zur Verfügung. Meistens ist Grabner deshalb mit Stirnlampe unterwegs. Ist man auf der Suche nach Empfang für Internet oder Handy, wird man erst im Tal wieder fündig. Das heuer neu erstandene Luxusprodukt ist ein großer Zuber zum Baden.

Tagwache ist zwischen 5:30 und sechs Uhr, dann macht sich Grabner auf den Weg, um ihre 400 Kilo schweren Schützlinge zu finden und abzuzählen. Jede Kuh und jeder Ochse hat eine Nummer und muss täglich auf einer penibel geführten Liste abgehakt werden. Auch ob sie gesund sind, muss überprüft werden. Schreitet der Sommer voran, wandern auch die Kühe noch weiter nach oben, dort wird es steil und mitunter lebensgefährlich für die Tiere. Verirrt sich eine Kuh, muss Grabner sie wieder einfangen und zur Herde treiben. Verirren sich mehrere, muss mitunter ein Zaun repariert werden. So eine Tour kann bis zu vier Stunden dauern.

Kann so einen Job eigentlich jeder machen? "Na ja, wissen, wie ein Rindviech ausschaut, sollte man schon", sagt der Bauer Franz Sagmeister und grinst. Der 40-Jährige ist Obmann jener Genossenschaft, die jährlich die Kühe auftreibt, wie man hier sagt. Sechs von ungefähr vierzig im Ort ansässigen Bauern beteiligen sich heuer, finanziert wird das Ganze durch die Gemeinde Lessach und EU-Förderungen. Seit 2003 gibt es eine Behirtung, davor ging jeden zweiten Tag ein anderer Bauer, um nach dem Rechten zu sehen. Auf Dauer wurde das allerdings zu anstrengend – und zu aufwendig.

Betonkind mit Stadtflucht

Die Bauern empfinden Grabner als Glücksgriff. In den letzten vier Jahren sei keiner Kuh etwas zugestoßen, erzählt Sagmeister. Bei der Aussage klopft Grabner auf den Holztisch. "Passieren kann natürlich immer was", ergänzt der Bauer. Vor Jahren hat sich eine Kuh den Fuß gebrochen, eine andere ist vom Blitz getroffen worden. In solchen Situationen dürfe man nur nicht die Nerven wegschmeißen. Ängstlich sollte man auch nicht unbedingt sein, sagt Sagmeister, denn wenn dort oben ein Gewitter drüberzieht, wird die absolute Stille durch ein Donnergrollen durchschnitten.

Manche Dinge sind allerdings nicht vorhersehbar: Bei einer der letzten Treibaktionen ging knapp zwanzig Meter neben Grabner ein Steinschlag ab. Der heurige Sommer stelle in dieser Hinsicht aber sowieso eine Ausnahme dar: Die heftigen Unwetter und darauffolgenden Murenabgänge hätten dazu geführt, dass der untere See "cappuccinobraun" sei, erzählt Grabner verdrießlich. Ob das mit dem Klimawandel zusammenhänge, können die Bauern so direkt nicht sagen. Sagmeister beobachtet jedenfalls, dass die Unwetter in den vergangenen Jahren immer intensiver ausfallen würden: "So was wie heuer habe ich jedenfalls bisher noch nie gesehen."

Gefahren der Abschottung

Das Leben dort oben kann manchmal durchaus einsam werden, und Ablenkung gibt es wenig. Wenn zum Beispiel eine Woche durchgehend schlechtes Wetter ist und nicht einmal ein Wanderer vorbeikommt. Aber nach dem hat Grabner gewissermaßen auch gesucht. "Ich hab' dadurch rausgefunden, dass ich prinzipiell gern unter Leuten bin", sagt Grabner und lacht: "Manchmal muss man es sich nicht so schwer machen." Einem Leben als Aussteigerin, angelehnt an ihr Lebensmodell auf der Alm, steht sie skeptisch gegenüber. Um den etwaigen Komfortverzicht ginge es ihr dabei jedoch nicht, vielmehr um die Gefahren, die das Abschotten mit sich bringen würde: "Man vergisst leicht, dass es diese heile Welt, in der man sich wähnt, so nicht gibt."

Die Bauern hoffen jedenfalls, dass Grabner ihrem Dorf noch länger treu bleiben wird. Eine Aufgabe haben sie zudem noch zu erfüllen – sie wollen die Städterin von der Wichtigkeit eines zünftigen Frühstücks überzeugen. Die Mission lautet: Speckbrot statt Porridge. (Vanessa Gaigg aus dem Lungau, 18.9.2017)