Die Stones in Spielberg.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Mick Jagger in alter Frische

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Spielberg – Die Bühne war auch dieses Mal groß. Sehr groß. Aber gemessen an früher hemmungslos praktizierter Gigantonomie vergleichsweise schlicht. Statt verschlungener Pfade und allerlei Brimborium ragten vier Türme wie Monolithe in den Nachthimmel. Auf ihnen zu sehen: Die überlebensgroßen Videobilder vier älterer Herren, die tatsächlich so wirken, als seien sie ihren in Bergfels gehauenen Reliefen entflohen – Mick, Keith, Charlie und Ronnie, eine von Freunden verstärkte Viererbande im Dienste des Rock'n'Roll.

Schon die mediale Aufwärmrunde drehte sich vor dem 15. Österreich-Gastspiel der Rolling Stones am Red Bull Ring bei Spielberg kaum um in Kilo, Meter und Euro ausgedrückter Superlative, sondern um das Ehrfurcht gebietende Alter der Protagonisten und die Frage, ob es dieses Mal wirklich das letzte Mal gewesen sein könnte. Zu lesen war schon auf den Plakaten nur der Name, mit dem man die Gruppe wie alte Freunde nennt, die "Stones" halt, das "Rolling" braucht es längst nicht mehr.

Der Empfang dementsprechend freundlich: Noch bevor Mick Jagger beim Opener "Sympathy for the Devil" einsetzte, war das Publikum als Chor zur Stelle. Es sollte nicht lange dauern, bis Keith Richards mit seiner Gitarre kräftig reinholzte. Über weite Strecken klangen die Stones an diesem Abend wie eine ziemlich raue, ziemlich ruppige Blues-Band, die von einem kleinen, voll gepackten Club auf die große Bühne inmitten einer Wiese verpflanzt wurde.

Blues als Frischzellenkur

Mit ihrem jüngsten Studio-Album "Blue & Lonesome" haben uns die Stones ja ein Paradoxon aufgetischt: So frisch wie bei ihrer Interpretation alter Blues-Songs hat die vor unglaublichen 55 Jahren gegründete Band schon lange nicht mehr geklungen. Auch auf der Bühne erweisen sich Blues-Hadern "Just Your Fool" und "Ride Em Down" als richtiggehende Frischzellenkur, die im weiteren Konzertverlauf nachwirkte.

Zwar haben die Stones alte Gefährten wie Keyboarder Chuck Leavell oder Bassist Darryl Jones zur Seite, so sehr wie dieses Mal hat sich das Konzertgeschehen aber schon lange nicht auf den Nukleus der Band konzentriert: Jagger als Sänger, Bluesharp-Spieler und Chef-Unterhalter, Richards und Wood als Könner in der Kunst des Gitarrenteppichwebens, Charlie Watts als stoisches Groove-Zentrum.

Ob ein von Wood mit schönen R&B-Licks garniertes "You Can't Always Get What You Want", das dieses Mal ganz gut ohne angemieteten Chor auskam, oder ein als Blues-Rocker hingefetztes "Under My Thumb". Die Stones erweisen sich gegen Ende einer langen Karriere als hervorragende Praktikanten jener Schule des Rock, die sie einst im Zeichen der Liebe zu von Virtuosentum unangekränkeltem Blues selbst gegründet haben. Selbst "Midnight Rambler", allzu oft eine hohle Übung in Sachen Endlos-Jam, kommt dieses Mal als muskulöser Blues-Kracher daher.

Und wenn Richards einmal den falschen Akkord erwischt? Egal. Weil dann steht ihm sein verlässlicher Kumpel Ronnie zur Seite, und ohnehin kommt es vor allem darauf an, dass alles "in the pocket" ist, sprich dass rhythmisch alles ineinerandergreift. Slidegitarrenkönner Ry Cooder mag heute noch darüber lamentieren, dass sich Richards seine wichtigsten Tricks auf der offen gestimmten Gitarre bei ihm abgeschaut hat. Aber was Richards daraus gemacht hat, den verschlapften Gitarrenstil, den er daraus destilliert hat, er gehört zum kleinen Einmaleins des Rock.

Als Richards, von der berühmten Kuhglocke eingeläutet, räudig in die offenen Saiten greift, ist klar, diese "Honky Tonk Women" haben immer noch Sex. Dass Richards Sympathie-Weltmeister ist, zeigt sich, als er für "Happy" und ein in seiner Fragilität umso anrührenderes "Slippin Away" ans Mikrofon geht.

Die Wahl

"Ihr müsst im Oktober wählen", radebrechte Jagger auf Deutsch, um den Song zu verkünden, der bei der Publikumswahl via Fan-App das Rennen gemacht hatte: "She's a Rainbow", der 1967er-Song von "Their Satanic Majesties Request" – zumindest das keine schlechte Wahl.

Bemerkenswerter als Jaggers Versuche Deutsch zu sprechen, ist die lässige Ironie, die selbst in seiner Gockelei immer mitschwingt. Eine Ironie, die, dank griffiger Refrains oft überhört, auch in vielen Texten ihren Niederschlag gefunden hat. Und das spätestens seit dem in Spielberg als letzter Song vor den Zugaben dargebotenen "Satisfaction" von 1965. Wer daran zweifelt, führe sich wieder einmal den gerne missverstandenen Text zu Gemüte oder jenen des selbstironischen, gleich als zweiten Song abgefeuerten "It's Only Rock'N'Roll".

Wer sich die Geschichte der Stones näher anschaut, muss ihnen zugestehen, dass sie den um sie gesponnenen Mythen, ob als Rebellen oder Vertreter vermeintlicher Authentizität selbst nie auf dem Leim gegangen sind, immer Distanz gewahrt haben. Man kann schlecht Glaubwürdigkeit von einer Band einfordern, wenn diese eine solche selbst nie beansprucht hat.

Nach zwei Zugaben, "Gimme Shelter" und "Jumping Jack Flash", entließen die Stones, natürlich nicht ohne Feuerwerkseinlage, ein bunt gemischtes Publikum über alle Generationen hinweg in die Nacht. Während selbst das Wetter zu guter Letzt Sympathie an den Tag gelegt hatte, wartete auf viele Heimreisende Chaos auf dem dicht gedrängten Fußweg zu Autos und den vielen erfreulicherweise eigens eingerichteten Bussen. Auf die Stones wartete ein Privatjet mit Zunge. Ihr Rock'n'Roll-Zirkus zieht weiter, nächste Station ist am Mittwoch in Zürich. (Karl Gedlicka, 17.9.2017)