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Armut und mangelnde Bildung, vor allem bei Frauen, halten die Geburtenrate hoch. Das rasante Bevölkerungswachstum bremst wiederum die wirtschaftliche Entwicklung und erhöht den Migrationsdruck – ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss.

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Jeffrey Sachs fordert von Europa eine Partnerschaft mit Afrika.

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Ein von der EU und den EU-Staaten gespeister Bildungsfonds, der jedem afrikanischen Jugendlichen eine vollständige Schulbildung ermöglichen würde, wäre der beste Weg, um die Massenmigration aus Afrika einzudämmen. Das sagt der US-Ökonom Jeffrey Sachs, weltweit führender Experte für Entwicklungspolitik, im STANDARD-Interview.

"Das würde 20 bis 25 Milliarden Dollar im Jahr kosten, das ist nicht viel", sagt Sachs, der seit Jahren die UN-Generalsekretäre berät. "Das ist machbar." Die gesamte Entwicklungshilfe aus Europa betrug 2016 75 Milliarden Dollar (63 Milliarden Euro), wobei nur wenige Staaten das UN-Ziel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfüllen. Eine solche Bildungsinitiative würde das Wachstum ankurbeln und die hohen Geburtenraten senken, sagt Sachs.

STANDARD: Um den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer zu stoppen, muss Europa die Ursachen der Flucht aus Afrika bekämpfen, sagen auch Sie. Wie soll das gehen?

Jeffrey Sachs: Es muss und kann geschehen. Menschen wollen nicht flüchten, sondern in ihrer Heimat ihre Familien großziehen. Wenn sie wegen Armut, Krieg und Umweltzerstörung flüchten, dann lassen sie sich nicht stoppen, weder durch Barrikaden noch durch Mauern. Auch die Chinesische Mauer hat nicht funktioniert.

STANDARD: Ja, aber was kann Europa heute tun, was bisher nicht geschehen ist?

Sachs: Man muss dafür sorgen, dass die 54 Staaten in Afrika zu Orten werden, wo es für die Menschen eine wirtschaftliche Zukunft gibt. Dafür braucht es keine Wunder, das ist erreichbar, aber wird derzeit nicht erreicht, weder in Afrika noch in Westasien.

STANDARD: Und woran scheitert das?

Sachs: Der erste Grund sind militärische Konflikte, der zweite die demografische Entwicklung, der dritte die Umweltzerstörung. All das vertieft die Armut. Darauf brauchen wir eine ernsthafte Antwort. Und die gibt es schon: Es sind die nachhaltigen Entwicklungsziele der Uno.

STANDARD: Seit 50 Jahren gibt es Entwicklungshilfe für Afrika, ohne dass die Wirtschaft abhebt. Das hat doch tieferliegende Gründe.

Sachs: Eine Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung ist möglich. Afrika wächst bereits um fünf Prozent im Jahr, und es könnte acht bis zehn Prozent wachsen – dank technologischer Fortschritte, dem Rückgang des Analphabetismus und einer verbesserten Infrastruktur. Dafür braucht es aber ausreichend Hilfe.

STANDARD: Und dann kommt der nächste Konflikt und zerstört, was aufgebaut wurde.

Sachs: Ja, es gibt viele kriegerische Konflikte, aber vergessen wir nicht, wie viele von ihnen durch die falsche Politik der USA oder Frankreichs verursacht wurden. Das gilt auch für Syrien und Libyen. Wir machen Milizen verantwortlich, aber oft ist es die CIA, oder es sind andere externe Kräfte. Die USA behaupten, sie würden Demokratie fördern, aber sie forcieren nur Regimewechsel – und das führt fast immer ins Desaster.

STANDARD: Und das Bevölkerungswachstum? Zerstört das nicht langfristig jede wirtschaftliche Perspektive?

Sachs: Die demografische Entwicklung in Afrika ist wirklich dramatisch. 1950 hatte der Kontinent 180 Millionen Bewohner, heute ist es eine Milliarde, und wenn nichts geschieht, sind es am Ende des Jahrhunderts vier Milliarden. Und dann kann kein Ozean und keine Mauer die Massenmigration aufhalten.

STANDARD: In Asien sind die Geburtenraten deutlich zurückgegangen, in Afrika aber nicht. Wie lässt sich da gegensteuern?

Sachs: Der Schlüssel ist Bildung. Wenn ein junges Mädchen in die Schule geht und diese abschließt, dann bekommt sie später zwei oder drei Kinder und nicht acht bis zehn. Der demografische Wandel wird kommen, immer mehr Regierungen wollen ihn, und wenn es eine Bildungsoffensive gibt, dann wird die Geburtenrate rasch fallen.

STANDARD: Und was kann hier die Rolle der Europäer sein?

Sachs: Ich flehe die europäischen Regierungen und die EU-Kommission seit Jahren schon an: Richtet einen Fonds ein, der es jedem afrikanischen Kind ermöglicht, eine Sekundärbildung zu erhalten. Das würde 20 bis 25 Milliarden Euro im Jahr kosten, das ist nicht viel. Das ist die beste Investition, die man in Afrika machen kann. Brüssel sollte sich mit Elan darauf werfen. Man würde begeisterte Partner unter den afrikanischen Politikern dafür finden. Ein solches Programm würde das Wirtschaftswachstum in Afrika unglaublich stärken und die Demografie stabilisieren – und das für sehr geringe Kosten.

STANDARD: Sie haben vorher auch die Umweltzerstörung angesprochen, und hier ist die größte Gefahr der Klimawandel. Reichen da die bisherigen Anstrengungen?

Sachs: Vor allem müssen die Pariser Klimaziele erfüllt werden, die Erde darf sich nicht um mehr als zwei Grad erwärmen. Afrika besteht zu 70 Prozent aus Trockengebieten, und die sind im Hinblick auf die Erderwärmung am verwundbarsten. Wenn es mehr Dürren gibt, werden mehr Menschen flüchten. Das muss unbedingt gestoppt werden.

STANDARD: Ihre Vorschläge klingen auf dem Papier gut, aber lassen sie sich in der Praxis umsetzen?

Sachs: Das Programm, von dem ich spreche, ist machbar. Vor allem sehe ich keine Alternative. Derzeit wird von Jahr zu Jahr improvisiert, mit der Türkei und mit Libyen verhandelt, hier und dort werden Mauern errichtet. Dieser Zugang ist eine geopolitische Sackgasse. Nur eine Strategie der Partnerschaft führt auf die Erfolgsstraße.

STANDARD: Gibt es Beispiele, bei denen das funktioniert hat?

Sachs: Wir haben diesen Weg seit 17 Jahren beim Global Fund gegen Aids, Tuberkulose und Malaria beschritten, und er hat Erfolg gehabt. Malaria ist um 70 Prozent zurückgegangen. Wenn man investiert, erzielt man Ergebnisse.

STANDARD: Aber Europa steckt Jahr für Jahr Milliarden in die Entwicklungszusammenarbeit.

Sachs: Was Europa macht, ist zu klein, zu wenig organisiert und nicht strategisch. Es geht den Staaten zu sehr darum, ihre nationalen Flaggen aufzuhängen, statt etwa funktionierende Gesundheitssysteme aufzubauen. Die Hilfe für Bildung ist minimal. Wir brauchen eine Roadmap zum Erfolg, eine klare, langfristige Strategie. Das Ziel muss sein, dass bis 2030 jedes Kind in Afrika eine komplette Schulbildung erhält. Das ist machbar.

STANDARD: In vielen afrikanischen Staaten leiden die Schulen unter Ineffizienz, Korruption und unfähigen Lehrern. Würden Hilfsgelder da nicht versickern?

Sachs: Das Hauptproblem ist, dass es nicht genug Mittel pro Schüler gibt. Da kann man keine Schule ordentlich führen. Was man braucht, ist echtes Geld und einen ernsthaften Plan, der genau überprüft wird. Heute kann man dank neuer Technologie kontrollieren, ob die Kinder wirklich in die Schule gehen, etwa durch das Abnehmen von Fingerabdrücken. Dafür muss man Regierungen in die Verantwortung nehmen. Sie müssen sich zu einem strikten Zeitplan mit klaren Zielen verpflichten. Auch beim Global Fund gab es eine strenge Überwachung.

STANDARD: Regierungen lehnen diese Form der Konditionalität aber oft als Bevormundung ab.

Sachs: Wir brauchen Konditionalität, aber die richtige. Heute geht es meist um die Frage, ob Wahlen korrekt ablaufen. Geschieht das nicht, wird die Hilfe gekürzt. Aber Europa kann die Politik in Afrika nicht bestimmen, und Entwicklungshilfe kann man nicht ständig ein- und ausschalten. Kontrolliert werden muss die Durchführung konkreter Maßnahmen.

STANDARD: Und was wäre dabei die Rolle von NGOs?

Sachs: Sie können eine Rolle haben, aber nur als Teil eines nationalen Programms. Derzeit geben 28 EU-Staaten Geld an ihre lokalen NGOs, die mit zu geringen Mitteln, ohne Überprüfung und ohne konsistente Strategie arbeiten. Die europäische Hilfe wird dadurch zu wenig wahrgenommen.

STANDARD: Nehmen wir an, all das geschieht: Dauert es nicht Jahrzehnte, bis sich Erfolge einstellen? Das Flüchtlingsproblem ist aber akut.

Sachs: Die Strategie muss auf 20 Jahre ausgelegt werden, und eine Verbesserung der tatsächlichen Lebensbedingungen braucht wohl ein Jahrzehnt. Aber wenn Europa einen solchen Weg einschlägt, würden die Menschen in Afrika das bald merken. Dann würde sich die Stimmung ändern. Und wenn die EU-Staaten ihre Hilfe aufstocken, sodass sie das UN-Ziel von 0,7 Prozent des BIP erfüllen, dann würden andere Staaten dem Beispiel folgen – China, Japan, Südkorea, Kanada, vielleicht einmal die USA. Aber Europa muss die Initiative ergreifen. Einer Afrikapolitik, die mutig, klar, geeint, sichtbar und sinnvoll ist, würden sich andere anschließen. Und was ist die Alternative? Ein Afrika mit vier Milliarden Bewohnern.(Eric Frey, 16.9.2017)