Der Südtiroler Dichter Oswald Egger, hier beim Erläutern der trügerischen Klippen und Stürze der Poesie: Der zweite Österreichische Buchpreis wird am 7. November in Wien verliehen.


Foto: Imago / Manfred Segerer

Wien – Das Südtiroler Nonstal – eine nördlich von Trient gelegene Talgemeinschaft – schätzt der erfahrene Obstfreund womöglich wegen seiner wohlschmeckenden, rotbackigen Äpfel. Val di Non lautet auch der Titel des neuesten Buches von Oswald Egger (54). Man kann den schmucken Suhrkamp-Band je nach Temperament als Schöpfungsversuch lesen oder als monströs aufgeschwollenes Stück Heimatliteratur.

Val di Non lässt sich auf jeder beliebigen Seite (von insgesamt 208) aufschlagen. Ins Auge fallen dem Betrachter sofort Exaktheit vortäuschende Federzeichnungen einzelliger Lebewesen. Aus manchen von ihnen sprießen Fädchen oder Fühler. Andere wieder kragen aus, bilden Kuppeln und Balkone. Besonders ansehnliche Exemplare gleichen Würmern oder Spindeln. Sie sitzen satt und selbstzufrieden zwischen mit Plasma gefüllten Membranen.

Alle diese Wesenheiten sind namenlose Geschöpfe aus den geheimnisvollen Tiefen eines urzeitlichen Meeres ("Tethys"). Aus dessen nicht recht fassbaren Fluten steigen, mit der Monotonie einer Wand aus Stelen, Eggers Textparagrafen empor. Jeder Eintrag des Südtiroler Dichters umfasst exakt 13 Zeilen. Jedes dieser Minikapitel macht die Gattungsgrenze zwischen Poesie und Prosa vorsätzlich obsolet. Eggers Ehrgeiz ist scheinbar naturkundlicher Art.

In immer genauerer Betrachtung liest er Tal- und Gesteinsformationen. Ein heiteres Unterfangen für jeden, der dem Umgang mit Menschen und ihren Problemen fürs Erste abgeschworen hat. Die Welt? Ist ein offenes Buch. Aber nur für denjenigen, der ein solches der Einfachheit halber gleich selbst zu schreiben versucht.

Der Vorgang des Sehens

Der Autor selbst ist es, der das Sehen beim Wort nimmt. Den Vorgang des Sehens beglaubigt die Vielfalt des (nur von ihm) Gesehenen. Egger schiebt die alpinen Wahrnehmungsinhalte zu Formationen aus Fels, Wald und Wasser zusammen. Auf der Zunge liegen ihm – der verquickt, was nicht zusammengehört – Litaneien. Wie in einem Kaleidoskop purzeln die anmutigsten Wörter durcheinander. Viele von ihnen hat noch kein Mensch jemals zuvor gehört oder gelesen.

Von der Sohle des Tales (des "Non"- oder Nicht-Tales) führen tausend Begriffe hinauf auf die Gipfel und Kämme einer von Grund auf neu zu kartografierenden Welt. Vor den Vorhang der Poesie werden gebeten: die Grannen und Gumpen, Tobel und Glyphen, Gaffeln und Polder. Botaniker mit aufnahmebereiten Trommeln können besonders putzige Wortungetüme einsammeln. Den "Zulpbeutel", die "Buk-Kuckeln", die "Pfuie".

Egger mahlt bei Bedarf auch die Grammatik klein. Seine Komposita und Neologismen taugen vorzüglich als Adverbien. Sie gehen bei entsprechender Kleinschreibung als Verben durch oder dienen als Schmuckwörter, die den Naturfreund in eine Art künstlicher Hochstimmung versetzen (sollen).

Leider, bei konsequent durchgehaltener Lektüre, wiegen sie die Vernunft auch in einen seligen Halbschlaf. Man weiß nun, wohin die Sturzbäche ihr Nass ergießen. "Die Äste wetzten und rauften, dass es wuzelig heraustropft". Was aber anfangen mit einem "wiederauftraubenden Rumpelstilz"? Wohin mit einer "Zwillchnaht", was tun mit den "gestakstesten Ästen"? Was soll es bringen, dem "Sandgumpf" dabei zuzusehen, wie er "massiv" wird?

Mit der Entscheidung, Val di Non auf die Longlist des heimischen Buchpreises zu setzen, wird das Dilemma der Beurteilung von "postexperimenteller Poesie" einigermaßen deutlich. Dieses Buch enthält einige bizarre Schönheiten. Aber es argumentiert nicht, es raunt und droht mit Überwältigung. Überfülle schlägt in Verkümmerung um. Zaghafte Anklänge an Paul Celan, an das "Krimgotisch" Oskar Pastiors und an Franz Kafka ("Oft fror das Meer bis nach oben") nähren nur bedingt das Interesse an dieser Expedition. Sie führt geradewegs in versteinerte Verhältnisse. (Ronald Pohl, 19.9.2017)