Was sich auf den Fluren der österreichischen Schulen abspielt, ist nicht immer schön und fast nie effizient. Zu oft wird der argumentative Notausgang benützt.

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Seit dem Bekenntnis zum "Erfolgsmodell Gymnasium", das Sebastian Kurz soeben in seinem Wahlprogramm abgelegt hat, müssten zwischen zwei der ÖVP-Quereinsteiger die bildungspolitischen Fetzen fliegen, nämlich zwischen dem Mathematiker Rudolf Taschner und dem Ex-Rechnungshofpräsidenten Josef Moser. Taschner hat erklärt, dass sich das gegenwärtige Ausleseschulsystem "in gewisser Hinsicht außerordentlich bewährt" hat. Leider hat er es unterlassen zu erklären, in welcher Hinsicht. Mit-Quereinsteiger Moser hat hingegen die vergangenen zwölf Jahre mit Engagement und harten Daten nachgewiesen, dass sich das traditionelle Schulsystem in vieler Hinsicht nicht bewährt hat.

Von sich auf andere

Taschner hat als angehender Politiker etwas getan, was er als Mathematiker sicher für absolut unzulässig hält: Er hat von seinen subjektiven Erfahrungen als ehemaliger Mathematiklehrer am privilegierten, sozial hochselektiven Gymnasium Theresianum (Schulgeld ohne Internat 6270 Euro pro Jahr) auf das Schulsystem in seiner Gesamtheit geschlossen. Dass die Eltern von Theresianisten oder generell von AHS-Schülern einigermaßen zufrieden sind, dass ihre Kinder einen Schultyp besuchen, der zur gnadenbringenden Matura führt und durch seine Aufnahmeverfahren lästige Migrantenkinder wegfiltert, lässt sich ja nachvollziehen, aber es handelt sich dabei nur um etwa ein Drittel der Schulbevölkerung, was offensichtlich nicht reicht, um vom "Erfolgsmodell österreichisches Schulsystem" zu sprechen.

Angry silence?

In eine Erfolgsbilanz des Schulsystems sind nicht bloß die Gymnasien, sondern auch die Neuen Mittelschulen und die Polytechnischen Schulen einzubeziehen. Und hier dürfte es Moser als ehemaligem obersten Betriebsprüfer des Schulsystems schwerfallen, das ÖVP-Bekenntnis mitzuvollziehen und den Herren Kurz und Taschner nicht die Rechnungshofprüfberichte des Schulwesens und die Nationalen Bildungsberichte um die Ohren zu schlagen. (Dabei könnten ihn übrigens die ÖVP-Landeshauptleute von Tirol und Vorarlberg, Günther Platter und Markus Wallner, unterstützen, die beide seit einigen Jahren das zweigliedrige Ausleseschulsystem durch ein tüchtiges Gesamtschulsystem ersetzen wollen und seit Kurz' Apotheose auffällig ruhig sind. Stille Verehrung oder "angry silence"?)

Nach welchen Gütekriterien ist das österreichische Schulwesen ein Erfolgsmodell? OECD-weit werden Schulsysteme danach beurteilt,

· inwiefern ihre Schülerinnen und Schüler jene Bildungsstandards erreichen, die ihnen eine selbstbestimmte Existenz und eine zufriedenstellende Berufskarriere ermöglichen;

· ob sie fair und chancenangleichend sind, indem sie außerschulischen, herkunftsbedingten Benachteiligungen entgegenwirken;

· ob sie mit den personellen und materiellen Ressourcen effizient umgehen und das nationale Bildungspotenzial (die "Begabungsreserven") angemessen aktivieren und

· ob sie bei möglichst vielen Kindern das erreichen, was die Bildungsforschung "learning mindsets" nennt – Selbstvertrauen, Lernbereitschaft und effiziente Lernstrategien, die Voraussetzungen für "lebenslanges Lernen".

Dass das "Erfolgsmodell Gymnasium" als "unerwünschte Nebenwirkung" eine alarmierende Zahl von Schulabgängern mit unzureichenden Lese- und Rechenfertigkeiten produziert, ist weithin bekannt und wird alle drei Jahre durch OECD-Pisa-Resultate bestätigt. Dass das Schulsystem trotz Fokussierung auf Selektion am oberen ("gymnasialen") Ende der schulischen Leistungsskala international relativ wenige Spitzenleistungen hervorbringt, ist weniger bekannt, aber nicht weniger beunruhigend.

Vererbung von Bildungsstatus

Und auch dass die schulische Auslese mit zehn Jahren hochgradig sozial segregierend wirkt und zur undemokratischen "Vererbung von Bildungsstatus" beiträgt, ist kein Beleg für ein "Erfolgsmodell", ebenso wenig wie der sorglose Umgang mit den Bildungsfinanzen und die Doppelgleisigkeit der Schulverwaltung, über die sich Ex-RH-Präsident Moser jahrelang die Finger wundgeschrieben hat.

Bei seiner Vorstellung als ÖVP-Kandidat ließ Taschner mit dem Satz aufhorchen, dass man eine "gute Gesamtschule" nicht ohne Geld aufbauen könne. No na. Selbstverständlich nicht, aber wie der soeben veröffentlichte OECD-Bericht "Education at a Glance" belegt, sind Gesamtschulsysteme nicht teurer als nicht besonders erfolgreiche Ausleseschulsysteme wie das österreichische.

Taschner traf – unbeabsichtigt? – eine fundamentale Unterscheidung, nämlich die zwischen "guten", "echten" Gesamtschulen und Pseudogesamtschulen. Man kann nicht von "der Gesamtschule" sprechen; zu groß ist die Vielfalt ihrer nationalen Erscheinungsformen. "Naive" Vergleiche von Gesamtschulen mit Ausleseschulen sind sinnlos. Ein seriöser Qualitätsvergleich (siehe die soeben erwähnten Gütekriterien), bei dem gute und Pseudogesamtschulen mit mehr oder weniger erfolgreichen Ausleseschulen verglichen werden, setzt allerdings die Kenntnis der nationalen Kontexte und Recherchen in den riesigen Bildungsdatenbanken der OECD und des internationalen Schulsystemvergleichsprojekts IEA voraus. Und dabei erweisen sich allemal gute Gesamtschulsysteme als überlegen – hinsichtlich der erreichten Leistungsstandards, hinsichtlich des Abbaus von Chancenungleichheit und hinsichtlich der effizienten Nutzung von Ressourcen. (Es ist reizvoll zu spekulieren, um wie viel besser die relativ erfolgreichen Ausleseschulsysteme der Schweiz oder von Bayern erst wären, wenn sie in gute Gesamtschulsysteme umgewandelt würden.)

Gesamtschulreform in Österreich

Angesichts der Lernunfähigkeit und Wirklichkeitsverweigerung der ÖVP und des Verlusts des bildungspolitischen Klassenbewusstseins der SPÖ, die das Kunststück fertigbringt, die Gesamtschule, seit hundert Jahren Kernstück sozialdemokratischer Bildungspolitik, weder im Plan A noch im Wahlprogramm zu erwähnen, hat eine Gesamtschulreform in Österreich bis auf weiteres "a snowball's chance in hell". Daran werden wohl weder die gesamtschulfreundlichen Statements der Grünen noch die der Neos etwas ändern, die sich mit ihrem Insistieren auf freie Schulwahl ohnedies auf höchst schlüpfriges Terrain begeben.

In Schweden und in England, die jahrzehntelang als Schrittmacher der europäischen Gesamtschulentwicklung galten, haben drei neoliberalistisch inspirierte Maßnahmen zu einer Erosion des Gesamtschulsystems geführt: die Aufhebung von Schulsprengeln, die früher für ein gewisses Maß an sozialer Durchmischung sorgten, die Ausstattung von Schulen mit besonderen Profilen, was nunmehr die Selbstselektion "bildungsnaher", ambitionierter Eltern begünstigt, sowie die Einrichtung von "freien Schulen", die öffentlich finanziert werden, aber den lokalen Schulverwaltungen entzogen sind und es diesen so gut wie unmöglich machen, ein qualitätsvolles flächendeckendes Bildungsangebot für den gesamten Distrikt zu gewährleisten.

Länderprüfung

Immerhin hatte Schweden den Mut, die OECD um eine Länderprüfung zu ersuchen, nicht zuletzt wegen des sich abzeichnenden Leistungsrückgangs. Mit unüblicher Deutlichkeit las ein internationales OECD-Expertenteam der schwedischen Bildungspolitik die Leviten und forderte Schweden auf, bei der Rekrutierung der Schülerschaft für die einzelnen Schulen der sozialen Segregation entgegenzuwirken und für eine Rekonstruktion einer förderlichen Lernkultur an allen Schulen zu sorgen. Schweden hat für seine neoliberalistische Bildungspolitik von der OECD die gebührende Watschn erhalten. Auch Österreich sollte die OECD um eine Länderprüfung ersuchen, angesichts der zu erwartenden Beurteilung seines "Erfolgsmodells" aber damit rechnen, dass beide Wangen etwas abbekommen. (Karl Heinz Gruber, 19.9.2017)