Karitative Initiativen wie die kostenlose Essensausgabe – im Bild eine Ausspeisung bei der Wiener Friedensbrücke durch den Canisibus der Caritas – stehen vor der Herausforderung, dass sie das nachhaltige Ziel verfolgen, sich selbst wieder in diesem Bereich abzuschaffen.

Foto: Andy Urban

Salzburg – Die großen Religionen der Welt haben eine jahrhundertealte Tradition, das Leid der Armen zu lindern. In der modernen Gesellschaft von heute spielen säkulare NGOs dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Doch weiterhin sind sogenannte glaubensbasierte Organisationen – im Englischen werden sie "faith-based organizations", kurz FBOs, genannt – wie die katholische Caritas oder die evangelische Diakonie von zentraler Bedeutung für die Armutsbekämpfung. Im vergangenen Jahrzehnt sind FBOs sogar noch wichtiger geworden, sagt Emma Tomalin, Professorin an der Universität Leeds in Großbritannien und Direktorin des dortigen Centre for Religion and Public Life. In welchem Spannungsfeld sie sich in der Armutsbekämpfung bewegen, ist einer der Schwerpunkte, die diese Woche bei einer Konferenz an der Uni Salzburg zu Armutsforschung diskutiert werden.

In der Bekämpfung und Linderung von Armut haben FBOs zwei zentrale Aufgaben einzunehmen, die nicht einfach zu vereinen sind: die möglichst intensive Hilfe für die Betroffenen einerseits, anderseits Systemkritik und Anwaltschaft zu leisten. "Es ist der alte Vorwurf von Karl Marx", sagt Helmut Gaisbauer vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Uni Salzburg, einer der Organisatoren der Tagung, "dass Religion das Opium des Volkes sei, ihnen Salz in die Augen streue, indem sie sie auf später vertröstet, anstatt revolutionär gegen gesellschaftliche Missstände aufzutreten".

Im Sinne der Betroffenen sei es wichtig, dass FBOs ein Partner für kommunale Verwaltungen in der Armutsbekämpfung sind, gleichzeitig dürfen sie sich damit keinen Maulkorb einhandeln, wenn es darum geht, Verbesserungen von der Politik einzufordern. "Das kann eine schwer auszuhaltende Spannung sein, in der sich FBOs häufiger finden als NGOs", sagt Gaisbauer.

Skandalöse Zustände

Initiativen wie kostenlose Essensausgabe, die vor allem von FBOs angeboten werden, finden sich in dem Dilemma wieder, dass sie einerseits Nothilfe leisten und den Menschen Handlungsspielräume ermöglichen wollen. Andererseits sind sie damit ein Rädchen im institutionellen Gefüge und nehmen "Druck aus dem skandalösen Zusammenhang heraus, dass es Menschen gibt, die hungern", sagt Gaisbauer.

Die Nothilfe können FBOs ihrem Selbstverständnis nach nicht auslassen, auch wäre es zynisch, politischen Druck auf Kosten der Betroffenen aufzubauen. Dennoch gilt es, darauf hinzuweisen, dass es sich bei Armut nicht um ein rein individuelles Problem handelt, sondern um ein Phänomen, das viele strukturelle Ursachen hat. Das nachhaltige Ziel bei armutslindernden Maßnahmen wie kostlosem Essen muss daher immer sein, "dass man sich selbst letztlich wieder in diesem Bereich abschafft", sagt Gaisbauer.

Eine weitere Frage, die die Armutsforscher aktuell beschäftigt, lautet, ob FBOs, die von Armut betroffene Menschen unterstützen, gleichzeitig auch kirchliche Ziele verfolgen im Sinne einer Missionierung. In Afrika oder Südamerika sei das teilweise durchaus der Fall, sagt Gaisbauer. Menschen, denen es schlecht geht, würden dort mitunter in religiöse Gemeinschaften geholt mit dem Versprechen auf ein neues, besseres Leben. In Europa dagegen sei diese Form der Missionierung bei FBOs nicht zu finden.

Spiritueller Austausch

Einen Vorzug, den religiöse Initiativen bei der Betreuung von Armen haben, ist, dass sie über die rein ökonomische Unterstützung hinaus einen Beitrag leisten können, den Menschen zu helfen und sich aktiv mit ihrer Situation auseinandersetzen zu können, sagt Andreas Koch, Leiter der Arbeitsgruppe Sozialgeografie an der Uni Salzburg, der die Konferenz ebenfalls mitorganisiert. "Mitarbeiter von FBOs haben es leichter, sich mit den Menschen auf einer spirituellen Ebene auszutauschen", sagt auch Tomalin.

Neben der qualitativ-subjektiven Ebene der Armutsforschung, betont Koch die Bedeutung der quantitativ-objektiven Ebene: "Es ist sehr wichtig, Statistiken auf nationalstaatlicher und globaler Ebene zu haben, um Vergleiche anstellen zu können."

Statistisch gesehen gilt als armutsgefährdet ,wer weniger als 60 Prozent des typischen Einkommens (Median) verdient. In Österreich lag diese Grenze 2016 für einen Einpersonenhaushalt bei 14.217 Euro Jahreseinkommen, bei einem Haushalt von einem Erwachsenen und einem Kind bei 18.482 Euro. "Das heißt natürlich nicht, dass jemand, der knapp darunterliegt, armutsgefährdet ist und jemand, der knapp darüberliegt, nicht, aber die Armutsgefährdungsschwelle liefert einen Anhaltspunkt, der in der politischen Auseinandersetzung wie auch im wissenschaftlichen Diskurs hilfreich ist", sagt Koch.

Wünsche an die Politik

Während in anderen europäischen Ländern wie Rumänien oder Bulgarien, aber auch Portugal, Spanien oder Großbritannien wieder schwerwiegendere Formen der Armut und Obdachlosigkeit zunehmen, ist dieser Trend in Österreich einstweilen nur eingebremst zu bemerken.

Allerdings sei zu befürchten, dass die Migrationsbewegungen die Situation verschärfen, sagt Gaisbauer. Im Diskurs würden Flüchtlinge gedanklich oft als von einem anderen Planeten kommend wahrgenommen werden, "aber sie sind Teil des Bildes, über das wir sprechen".

Im Hinblick auf die Nationalratswahlen formuliert Koch Wünsche an die Politik, die zur Eindämmung von Armut hierzulande notwendig wären: "Vor allem in den städtischen Gebieten muss mehr leistbarer Wohnraum geschaffen werden. Das heißt nicht unbedingt, dass mehr Wohnungen gebaut werden müssen, sondern auch, dass mit dem verfügbaren Wohnraum vernünftiger umgegangen und Immobilienspekulationen in die Schranken gewiesen werden sollten." Im Bereich der Stadtplanung sei es zudem wichtig, der Gentrifizierung stärker Einhalt zu gebieten und "bewusster mit der Abschottung der Reichen gegenüber den weniger Reichen umzugehen".

Weiters empfiehlt Koch im Sinne der Armutsbekämpfung, dass Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen stärker von der Politik in den Blick genommen sowie ein "faireres Steuersystem" in Angriff genommen wird.

Ermächtigung und Weckruf

In einem Feld, das so unmittelbar mit menschlichen Schicksalen verknüpft ist wie die Armutsforschung, ist der direkte Austausch mit Betroffenen besonders wichtig. "Ein Relevanzkriterium für unsere Forschung ist, dass sie im Sinne der Betroffenen funktioniert", sagt Gaisbauer. Konkret bedeute das eine enge Zusammenarbeit mit Institutionen, die in der Armutsbekämpfung tätig sind, sowie mit den Menschen, die von Armut betroffen sind.

Da Armutsbekämpfung immer auch mit Stärkung und Ermächtigung zu tun hat, sei es für die Betroffenen "schon ein Stück weit gelebte Armutsbekämpfung, wenn sie in die Forschung eingebunden werden und Anerkennung bekommen, wenn sie sehen, wie wichtig ihre Erfahrungen für unsere Arbeit sind", sagt Gaisbauer. "Mit Menschen zu tun zu haben, die meine Arbeit als Armutsforscher betreffen, ist wie ein Weckruf für mich, die Dinge so ernst zu nehmen, wie sie es auch tatsächlich sind." (Tanja Traxler, 22.9.2017)