Schönheit und Verkümmerung, Miniaturwelt und große Natur, Sprache und das, was außerhalb des rationalen Gesichtsfelds steht: Marion Poschmann.

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Marion Poschmann, "Die Kieferninseln". € 20,60 / 168 Seiten. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017

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Als Gilbert Silvester erwachte, wusste er, dass seine Frau ihn betrogen hatte. Nicht zufällig fällt ihm beim Anblick der schlafenden Mathilda Medusa ein. Oder doch eine Qualle, eine Meduse? Schließlich schreibt Marion Poschmann von Tentakeln einer bösartigen, in Pech getauchten Meduse. Nach einem Streit, in dem sie jeden Verdacht energisch abstritt, fährt Silvester zum Flughafen, bucht den erstbesten Flug. Der ihn nach Tokio bringt.

Japan ist für ihn die vollendete Fremde. In der Flughafenbuchhandlung ersteht er japanische Klassiker in englischer Übersetzung, Matsuo Bashos Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, das Prinzenepos Genji Monogatari und das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon. Er fühlt sich diesen Arbeiten nah, als würde er sie schon seit langem kennen. Und doch hat er kaum mehr als einige Haikus gelesen.

Gilbert Silvester ist nicht einmal ein Ritter von der traurigen Gestalt. Gerade einmal zum Knappen in der akademischen Welt hat er es gebracht. Privatdozent ist er, ein mäßig bezahlter. Von Zeitvertrag zu Zeitvertrag zu Projektarbeit hat er sich durchgehangelt.

Seine Frau ist Gymnasiallehrerin, sehr beliebt, sehr kommunikativ, sehr erfolgreich im Bereich der Junglehrerfortbildung. Er hingegen ist aktuell Bartforscher. Süffisant beschreibt Marion Poschmann dieses Projekt: gesponsert von der Filmindustrie des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, einer feministischen Organisation und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln. Forschungsinhalt: die Wirkung von Bartdarstellungen im Film unter Berücksichtigung von Aspekten der Kulturwissenschaft und der Gendertheorie, der religiösen Ikonografie und von Fragen nach der Möglichkeit philosophischer Expressivität im Medium des Bildes.

Poesie und Leben

Seine Aufgabe ist es, in die Kunstgeschichte einzutauchen, Bartdarstellungen zu sammeln. Wobei die Projektvorabbeschreibung wie stets das Ergebnis der "Forschung" gleich vorwegnimmt. So satirisch, so abstrus. Und so aus der digitalen Gegenwart gefallen. Wie auch Gilbert, der hartnäckig mit einem Füllfederhalter in ein papierenes Notizbuch schreibt und von seinen Studenten Umgangsformen einfordert.

Lost in translation ist er. Er irrt durch die Stadtschluchten Tokios. An einem hinteren Bahnhofswinkel hält er durch freundliche Ansprache einen jungen Japaner vom Selbstmord ab. Als Versager fühlt sich dieser Yosa Tamagotchi, als Schande für seine Eltern, die eine kleine Teehandlung betreiben und ihm das Studium finanziert haben, in dem er sich nun gescheitert fühlt.

Silvester redet so lange auf den jungen Mann ein, bis dieser von der Umzäunung heruntersteigt. Zu zweit machen sie sich nun auf, den Spuren des Pilgerbuches von Matsuo Basho durch Japan zu folgen. Immer wieder geeignete Orte für seinen Suizid nimmt Yosa, eine Ausgabe eines Handbuchs für Selbstmörder im Gepäck, in Augenschein. An Gilbert liegt es nun, Yosa jeden Ort auszureden und ihn so am Leben zu halten. Der eine Platz: unsagbar hässlich. Der andere, ein Wald: überlaufen und unästhetisch. Der dritte, ein Vulkan: lächerlich.

Der Ort der japanischen Poesie

Sie legen die Strecke zu den Kieferninseln im Norden Japans nicht zu Fuß zurück wie einst, im 17. Jahrhundert, Basho. Sondern sie nehmen den Zug. An einer Umsteigestation verliert Silvester Yosa im Gedränge aus den Augen. Dieser taucht nur mehr als Schemen auf. Ist er nur Fantasie gewesen, die Vorstellung eines Begleiters, den einst auch Basho hatte?

Dann erreicht Gilbert Silvester den Ort der Kiefern und der klassischen japanischen Poesie: "Wie Staub fiel die Mittagshitze herab und überzog alle Dinge mit einer pudrigen Unwirklichkeit."

Doch Betonblöcke sind das Erste, was er sieht. Und Oki no Ishi, der Stein im Meer, die andere Inspiration raffinierter Haikus, ist ein unansehnlicher Tümpel auf einer Kreuzung. Schließlich Matsushima, die Kieferninseln. Mit menschenleerem Geisterhotel, riesigem Parkplatz und Kiefern über Kiefern. Deren Schönheit wird beeinträchtigt durch Bauarbeiten. Abends im Fernsehen Sumo-Ringer, Erdbebenmeldung, eine Keramikausstellung, bunte Werbung.

Natur und Kultur

Einen klaren Blick hat Nippon Gilbert Silvester nicht beschert. Am Ende will er seine Frau Mathilda, die niemals wirklich glaubte, dass er bis nach Japan entwichen ist, nach Tokio einladen, zur Laubfärbung. Alles ganz einfach. Und doch kompliziert anders.

Im Frühsommer 2014 war die 1969 in Essen geborene, seit 1992 in Berlin lebende Marion Poschmann Stipendiatin des Goethe-Instituts Villa Kamogawa in Kioto. In diesen Wochen muss sie neugierig Japan angesehen und intensiv zugfahrend sich angeeignet haben. So wie Autorinnen und Autoren gerne, wenn sie Aufenthalte in Rom, Venedig oder Südkalifornien gewährt bekommen, Bücher über Rom, Venedig oder Kalifornien schreiben, so floss Japan in jüngerer Zeit verstärkt in ihre Poesie und ihre Prosa ein.

Die Schwarzkiefernküste Japans tauchte 2016 in gar nicht wenigen Gedichten ihres Lyrikbandes Geliehene Landschaften auf. An einer Stelle las man dort etwa: "Aomori. Osaka. Tottori. / Kannst du / ortskundig sein und doch sinnlosen Sehnsüchten folgen, / dir selber Auskunft verweigern, böse, genial?"

Schönheit, Sprache, Natur

In anderen Poemen verhandelte sie, die 2004 den Gedichtband Grund mit Schafen herausbrachte und jüngst einen erstmals ausgelobten Preis für "Nature Writing" zugesprochen bekam, Schönheit und Verkümmerung, Miniaturwelt und große Natur, Sprache, Rhythmus und das, was einen Tick außerhalb des rationalen Gesichtsfeldes sich bewegt oder steht oder liegt.

Einst, am Ende des 19. Jahrhunderts, schätzte Lafcadio Hearn, ein amerikanischer Journalist, der sich in Japan niederließ und versuchte, sich in einen Japaner zu verwandeln, vor allem das abgelegene und vormoderne Japan als Zivilisation fernab jeglichen Hochdrucks und "außerhalb der Einflusssphäre alles Widernatürlichen der menschlichen Zivilisation". Poschmann fasziniert dies, erst recht aber die Schroffheit zwischen brutalistischem Heute und zartem Gestern.

Zerfaserung gegen Ende

Gegen Ende zerfasert dieses Buch merklich. Es verliert seine Form. Die Perspektiven verschwimmen nicht nur, Ich-Erzählung und Er-Bericht wechseln sich bald recht regellos ab, ohne dass dies einzuleuchten vermag. Und auch ohne psychologisch tiefere Einsichten. Haikus werden immer zahlreicher eingestreut, die Welt wird Literatur, wird reine Sprache.

Gilbert selbst schreibt elektronische Nachrichten an seine Frau. Diese lesen sich jedoch so papieren, als würde er aus seinem Vorlesungsduktus nicht mehr herauskommen. Poschmann verliert zunehmend den Zugriff auf ihn. Als komische Karikatur angelegt, wird er Stoiker. Dafür laden sich Naturszenen fast magisch auf.

Ist dies ein rundum gelungener Roman? Zu vieles spricht dagegen: die Abwesenheit einer Entwicklung, das Zurückdrängen des Erzählens zugunsten eines intensiven Beobachtens, einer sehr suggestiven sensitiv-poetischen Prosa. Wären die Kieferninseln, angelegt als Prosagedicht oder als lyrischer Zyklus, nicht besser, berückender, überzeugender geworden? (Alexander Kluy, 24.9.2017)