Simon DeDeo versucht mit seinen Arbeiten Interdisziplinarität zu schaffen. Als gelernter Astrophysiker untersucht er derzeit mehrheitlich soziale Fragen.

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STANDARD: Sie haben Astrophysik in Princeton studiert. Hat Sie das gelangweilt, weil Sie heute Complexity Science machen, also die Simulation und Analyse unterschiedlichster komplexer Systeme und ihrer Einflüsse auf die Gesellschaft?

DeDeo: Gelangweilt nicht. Nur: Die Astrophysik steht vor einer begrenzten Anzahl an großen, spannenden Fragen. Im Feld der Complexity Science kann eigentlich jeder Student sein eigenes Thema bearbeiten. Ich habe nun einen Studenten, der sich mit der Komplexität von Poetik beschäftigt, um nur ein vielleicht unerwartetes Beispiel für die Vielfalt der Problemstellungen zu nennen.

STANDARD: Complexity Science untersucht Kausalitäten. Ein einfaches Beispiel: Bricht ein Erreger aus, wie könnte er sich im schlimmsten Fall verbreiten. Sie beschäftigen sich selbst viel mit Politik. Hätte man nicht auch politische Entwicklungen in den USA vorhersagen können?

DeDeo: Wir hatten in jüngster Vergangenheit ein paar wirklich einschneidende Momente in der Politik der USA, aber auch in Europa. Niemand konnte es ahnen, alle waren überrascht. Alle dachten, Hillary Clinton wird das schon irgendwie machen. Dass alle überrascht waren, hatte aber einen bestimmten Grund: Es gibt viele Menschen, denen es gut geht, die liberal sind, die mit den Ängsten, die zum Beispiel von US-Präsident Donald Trump geschürt werden, nichts anfangen können, sich aber auch nicht vorstellen wollten, dass sie existieren – und sie daher ignorieren, wenn sie auch sachlich jederzeit widerlegbar sind. Das war selbstgefällig.

STANDARD: Von welchen Ängsten sprechen Sie konkret?

DeDeo: Es ist die Angst, dass immer nur die gutsituierten Menschen profitieren, dass die Einwanderung die eigene Kultur wegdrängt, dass Universitäten, Politiker oder Journalisten in einer Art Geheimbund vernetzt sind. Meine Hoffnung ist, dass eine Demokratie wie in den USA solche Dinge aushält und dass es in Zukunft wieder mehr inhaltliche Auseinandersetzungen zu den Themen gibt, die ohne Gewalt ablaufen.

STANDARD: Wie arbeiten Sie bei politischen Analysen? Können Sie Beispiele nennen?

DeDeo: Wir haben europäische Parlamente zum Thema einer Arbeit gemacht – das dänische, das britische, auch das österreichische. Wir analysierten das Kommunikationsverhalten, also was die einzelnen Parteien der Öffentlichkeit mitteilen, wie sie untereinander innerhalb der Partei oder wie sie mit den politischen Gegnern sprechen, welche Sprachmuster sie verwenden. Was wir dabei erkannt haben: Parteien versuchen neue Muster in ihren Kommunikationsstrategien zu entwickeln, vor allem die extreme Rechte ist da sehr kreativ, verwenden immer wieder neues Wording, um ihre Position darzulegen. So ist unser gesamteuropäischer Befund.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung fernab aller Nationalismus- und Migrationsthemen, warum der Zulauf zu diesen rechten Parteien ungebrochen ist?

DeDeo: In früheren Jahren gab es in Europa in der Regel zwei große Parteien, eine eher links, eine eher konservativ. Sie haben sich voneinander unterschieden. Heute gibt es viel mehr Parteien, und alle reden von den gleichen Themen: Sicherheit, Wirtschaft, Migration, Familie. Sie kämpfen darum, sich in der Wortwahl zu unterscheiden. Das ist die Chance für extrem linke und extrem rechte Politiker – und in Europa sind das in Wahrheit hauptsächlich extrem rechte.

STANDARD: Beobachten Sie da radikalere Tendenzen als noch vor ein paar Jahren?

DeDeo: Soziale Medien, Facebook, Instagram oder Twitter bieten den einfachen Leuten schon länger die Chance, mit Politikern in Kontakt zu treten. Die treten vermehrt dort auf, weil sie ihre Botschaften so einfacher und schneller vermitteln können, aber immerhin gibt es die Chance einer Interaktion. Wir sehen auch, dass die sozialen Medien dafür benützt werden, um Menschen zu radikalisieren, und dafür werden viele Unwahrheiten verbreitet, Meinungen, die oft mit Fakten verwechselt werden. Die Frage ist, was man dagegen machen kann. Bei Wikipedia gibt es derlei nicht, da funktioniert die Kontrolle durch die Crowd.

STANDARD: Warum glauben manche dem Social-Media-Post eines Einzelnen mehr als recherchierten Fakten? Es gibt Wissenschafter, die meinen, dass Fakten immer öfter mit Meinung verwechselt werden.

DeDeo: Meine Studenten haben einen großen Respekt vor allen Wissenschaften. Sie sehen aber auch, dass ihre Kurznachrichten in den sozialen Medien sehr schnell viele Leser haben und dadurch ein enormes Gewicht bekommen. In den 1990er-Jahren hat es auch Studenten gegeben, die sich politisch engagierten, die ihre Meinung am Campus deutlich machten, nun aber sehen sie diese sofort und unmittelbar im Netz. Die Gefahr der Verwechslung ist natürlich gegeben, weil jeder Einzelne zum Nachrichtenübermittler wird. Daher ändert sich wohl auch Ihr Job, der des Journalisten, oder?

STANDARD: Das ist offensichtlich ...

DeDeo: Ich denke, vor 50 Jahren hätten wir auch dieses Gespräch geführt – selbstverständlich über andere Inhalte -, wir hätten einen Termin vereinbart. Sie hätten einen Text daraus gemacht oder auch nicht. Jetzt sind wir dauernd im Dialog. Sie sind im Gespräch mit Ihren Lesern, ich mit meinen Studenten – und wir müssen als Wissenschafter und Journalisten, die wir faktenorientiert arbeiten, auf den Unterschied zur Meinung ganz besonderen Wert legen. Die Demokratie zieht aber viel Nutzen aus diesen Entwicklungen.

STANDARD: Welchen sehen Sie?

DeDeo: Die Evolution der Demokratie: Vor 40 oder 50 Jahren hätten sie alle vier Jahre gewählt, mit Ihrer Familie über Nachrichten aus der Politik gesprochen. Heute kann jeder mit jedem kommunizieren und sich über politische Inhalte austauschen. Jeder Mensch kann eine politische Bewegung gründen und mit seinem Auftreten politische Ziele erreichen, die man nicht für möglich gehalten hat. Donald Trump ist ein Beispiel dafür, wenn auch ein angsteinflößendes. Ich vergleiche das oft mit der Situation nach der Französischen Revolution. Die Menschen haben nicht mehr nur die Wahl zwischen einzelnen Optionen, sie können selbst zu einer Option werden. (Peter Illetschko, 26.9.2017)