Recht auf Bildung ist für Muslimas in der österreichischen Gesellschaft selbstverständlich, in der Familie aber oft ein Streitpunkt.

Foto: Heribert Corn

Es kommt der Tag, an dem sich auch deine Mädchen vom Balkon schmeißen müssen." Das war der Gedanke, der Nahideh (alle Namen von der Redaktion geändert), durch den Kopf schoss, als sie in Kabul von der Geschichte mit dem Mädchen hörte, vor deren Türe bewaffnete Mujahedin standen, um sie zu vergewaltigen. Das Mädchen sprang in den Tod. Nahideh ist heute 61, seit 1994 lebt sie mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern in Wien.

Selbst hatte sie einen Vater, der Wert darauf legte, dass alle Mädchen studieren. Nahideh war in Kabul Journalistin, später Lehrerin, aber die Situation für Frauen wurde zusehends unerträglicher.

Bewaffnete Männer

Als ihre zehnjährige Tochter "zitternd und blass" von der Schule kam, weil sie von bewaffneten Männern aufgehalten wurde, die sie warnten, "ihr Kopftuch sei zu klein", reichte es der Familie. "Das war ihr letzter Schultag", erinnert sich die Mutter. Man floh nach Österreich. Hier maturierte und studierte die Tochter.

Grundsätzlich, sagt Nahideh, müsse man unterscheiden, woher afghanische Familien kommen. In den letzten Jahren kamen mehr aus dem ländlichen Raum, viele über den Iran, meist ohne Bildung. "Stellen Sie sich vor, man kommt von der Dunkelheit ins Licht, es gibt den Reflex der Augen, sie brauchen ein paar Sekunden, sich an das Licht zu gewöhnen. Menschen brauchen länger", erklärt Nahideh.

Sofort Deutsch lernen

Am wichtigsten sei es, sofort die Sprache zu lernen. Dann könne man sich von jeder Kultur nehmen, was man gut finde, das müsse man selbst entscheiden, findet Nahideh. In ihrer Kultur seien etwa Respekt vor der Familie und gutes Benehmen sehr wichtig. Sie habe ihre Kinder religiös erzogen, könne sie "aber nicht zwingen, religiös zu leben, das ist ihre Entscheidung".

Selbst trägt sie kein Kopftuch, außer bei Trauerfeiern. "Das Problem in vielen afghanischen Familien sind Eltern, die glauben, sie sind der Chef oder Gott. Erziehung braucht eine liebevolle Beziehung, in der man weiß: Ich bin ein Mensch, du bist ein Mensch, aber ich habe mehr Erfahrung", sagt Nahideh.

Was sie täte, wenn ihre Kinder sich in Österreicher verliebten? "Das kann ich erst sagen, wenn ich die Person kenne. Der Charakter ist genauso wichtig wie Religion oder Nationalität." Nachsatz: "Aber ich glaube nicht, dass sie sich in Österreicher verlieben."

Brüder spionieren Mädchen aus

Für Fatanah, die 1990 mit ihrem Mann und zwei Töchtern nach Kärnten kam, ist das Wichtigste, dass ihre Töchter glücklich sind – mit wem auch immer. Sie hatte in Kabul Geografie und Geschichte studiert und unterrichtet. In Österreich machte sie die Ausbildung zur Kleinkindpädagogin.

Sie kenne auch hier Familien aus Afghanistan, wo "die Erniedrigung der Mädchen früh beginnt". Zum Beispiel: "Schwestern, die den Brüdern die Schultaschen tragen müssen, und Brüder, die nicht nur ihre eigenen Schwestern ausspionieren, sondern auch andere Mädchen in der Community. Wenn ein Mädchen gesehen wird, wie es mit einem Burschen spricht, gibt es große Probleme."

Fatanah, die sich wie Nahideh nicht vorstellen kann, dass der Mord an einer 14-Jährigen in Wien durch deren Bruder ohne Wissen der Familie geschah, berät selbst Familien, die neu ankommen. Sie beobachte, dass sich viele erst nach etwa einem Monat abschotten.

Frauen müssen weg von Zuhause

"Zuerst freuen sie sich nur, in Sicherheit zu sein und warmes Wasser zu haben, dann plötzlich bleiben die Frauen daheim", sagt Fatanah, "es ist zum Verzweifeln. Ich glaube, dass das auch von außen kommt, von Medien aus Afghanistan und dem Iran." Die Lösung: "Die Frauen müssen weg von Zuhause und Deutsch lernen." Die Kinder seien sonst "total zerrissen".

Diese Zerrissenheit kennt Psychologin Ursula Schober-Selinger von muslimischen Klientinnen: "Junge Frauen sind da oft auf einer Gratwanderung. Sie wollen den Eltern gefallen, aber auch ein freies, selbstbestimmtes Leben führen, was man von ihnen hier ja auch erwartet."

Frauen, aber auch junge Männer aus streng religiösen Familien könnten "nie die Anforderungen beider Seiten gleichzeitig erfüllen, das ist sehr anstrengend", sagt Schober-Selinger. Die Psychologie spreche von "double binds", die man nicht unterschätzen dürfe: "Deutschen Studien zufolge haben Migranten der zweiten Generation durch die Zerrissenheit ein höheres Risiko, an Schizophrenie zu erkranken."

Auch bei anderen Religionen

Das Problem kenne sie aber nicht nur von Muslimen, so Schober-Selinger: "Ich habe auch bei Kindern von Zeugen Jehovas erlebt, dass sie vor der Wahl standen, streng nach der Religion zu leben oder aus der Familie verbannt zu werden. Das ist auch ohne Gewaltandrohung eine enorme Last." (Colette M. Schmidt, 24.9.2017)