Sebastian Kurz (ÖVP, l.) wünscht sich als Kanzler Richtlinienkompetenz, Kanzler Christian Kern (SPÖ) hat das ebenfalls vorgeschlagen, ist aber am Koalitionspartner gescheitert.

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Wien – Für Viktor Klima (SPÖ) war sie "reiner Formalismus", Wolfgang Schüssel (ÖVP) hat sie nicht gebraucht, Alfred Gusenbauer (SPÖ) hat sie gefordert, Werner Faymann (SPÖ) hätte sie begrüßt, und unter Christian Kern (SPÖ) wurde sie rund um die Organisation des Krisenmanagements bei möglichen Terroranschlägen oder Pandemien einmal mehr ins Spiel gebracht – die Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler.

Nun hat ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian Kurz einen neuen Vorstoß für ein Weisungsrecht des Kanzlers gegenüber seinen Regierungsmitgliedern gemacht. Beim ÖVP-Wahlkampfauftakt plädierte Kurz, der nach den bisher bekannten Umfragen für die Nationalratswahl am 15. Oktober gute Chancen hat, nächster Bundeskanzler Österreichs zu werden, für eine Richtlinienkompetenz nach deutschem Vorbild. Der Kanzler müsse die Möglichkeit haben zu führen und zu entscheiden, so Kurz.

Sobotka jetzt doch für Richtlinienkompetenz

Pikantes Detail des Vorstoßes: bisher und so lange die SPÖ den Kanzler stellte, war die ÖVP immer vehement gegen eine solche Richtlinienkompetenz. Zuletzt hatte etwa Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) im September 2016 eine Weisungsbefugnis für den Kanzler abgelehnt. Nun ist Sobotka dafür, gehe es doch darum, den "Veränderungswillen durchzubringen".

Verfassungsexperten und Juristen halten eine Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler aber ohnehin für überbewertet und ein relativ zahnloses Instrument. In Deutschland ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin im Artikel 65 des Grundgesetzes verankert. "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung", heißt es dort. Ein Weisungsrecht der Kanzlerin gegenüber den Ministern gibt es aber nicht.

Und gleich im nächsten Satz heißt es: "Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung." Angela Merkels Durchgriffsrecht endet in der Praxis freilich ohnehin an den Parteigrenzen ihres Koalitionspartners. Wer die Richtlinienkompetenz als Kanzler gegen den Koalitionspartner ausübt, beendet de facto die Koalition.

Frage der politischen Machtverhältnisse

Der Verfassungsjurist Heinz Mayer bezweifelte deshalb schon in der Vergangenheit dass eine Richtlinienkompetenz die Rolle des Bundeskanzlers stärken würde. "Die Richtlinienkompetenz ändert nichts daran, dass der Kanzler mit seinem Koalitionspartner und den Ministern im Einvernehmen sein muss", betonte Mayer bei entsprechenden Diskussionen in der Vergangenheit.

Das Recht, die Arbeit der Regierung zu koordinieren, habe der Kanzler ohnehin. Mayer warnte auch davor, die Bedeutung der Richtlinienkompetenz zu überschätzen. Denn auch der österreichische Bundeskanzler habe mit der Aufgabe, die Arbeit der Regierung zu koordinieren, ähnliche Kompetenzen. Die Durchsetzbarkeit der Linie des Kanzlers sei aber sowohl in Deutschland als auch in Österreich eine Frage der politischen Machtverhältnisse. "Wenn man eine Richtlinienkompetenz in Österreich einsetzen möchte, wird sich nichts ändern. Das Problem ist: wie setzt man es durch."

Kanzler darf nicht weisen, aber entlassen

Österreichs Bundeskanzler hat rechtlich gesehen "gewisse Koordinationsaufgaben", wie es etwa der Verfassungsrechtler Theo Öhlinger einmal nannte. Weisungen darf er seinen Ministern keine geben, allerdings lässt ihm die Bundesverfassung freie Hand bei der Entlassung eines Ministers, die er dem Bundespräsidenten vorschlagen kann – jederzeit und ohne Angabe von Gründen.

Bundeskanzler Kern hatte rund um die Unterzeichnung des überarbeiteten Regierungsübereinkommens Anfang des Jahres etwa eine Entlassung von Innenminister Sobotka ins Auge gefasst, weil dieser zunächst die Unterschrift unter den Pakt verweigert hatte.

Regierungsbeschlüsse nur einstimmig

Weiters schlägt der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Minister seiner Regierung vor, die das Staatsoberhaupt dann angelobt. Als Vorsitzender und Sprecher des Kollegialorgans Bundesregierung hat der Bundeskanzler die Leitung bei Regierungssitzungen inne und entscheidet über die Tagesordnung. Gesetzesvorlagen werden allerdings vom jeweiligen Bundesminister eingebracht.

Die Bundesregierung als Kollegialorgan beschreibt der Artikel 69 B-VG. Dort wird den einzelnen Ministern die oberste Verwaltung im jeweiligen Bereich übertragen. Der Kanzler führt den Vorsitz und wird bei Verhinderung vom Vizekanzler vertreten. Die Bundesregierung als Kollegialorgan kann nur einstimmig – also mit Zustimmung aller Minister – einen Beschluss fassen. Einstimmige Zustimmung brauchen auch alle Regierungsvorlagen, die dann weiter in den Nationalrat gehen. (APA, 24.9.2017)