St. Pölten – Im Oktober vergangenen Jahres sind massive Vorwürfe gegen Pfleger im Pflegeheim Clementinum in Kirchstetten in Niederösterreich bekannt geworden. Sie sollen Patienten missbraucht, erniedrigt und gequält haben – DER STANDARD berichtete.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft St. Pölten gegen fünf Beschuldigte laufen noch, sagte Staatsanwaltschaftssprecher Leopold Bien am Dienstag – am Mittwoch wurde bekannt, dass es in dem Fall zwei Festnahmen gegeben hat. Der Staatsanwaltschaft sei bekannt geworden, dass zwei der Beschuldigten wieder im Pflegebereich tätig gewesen seien. Sie hätten – nach ihrer Entlassung in Kirchstetten im Oktober 2016 – wieder als Pfleger für alte, demente und pflegebedürftige Menschen gearbeitet. Deshalb habe Tatbegehungsgefahr bestanden, teilte Staatsanwalt Karl Wurzer mit.

Die im Fall Kirchstetten Tatverdächtigen wurden am Mittwochnachmittag einvernommen. Nach Prüfung der Verantwortung wird die Staatsanwaltschaft laut Wurzer vermutlich am Donnerstag entscheiden, ob U-Haft beantragt wird.

Ermittelt wurde und wird gegen die weiteren Beschuldigten nach Paragraf 92 Strafgesetzbuch (Quälen oder Vernachlässigen unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen) und Paragraf 205 (sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person).

Im Pflegeheim Clementinum soll sadistisches Pflegepersonal Patienten gequält haben. Die Verdächtigen bestreiten Folter und sexuellen Missbrauch. Beitrag aus der "ZiB 2".
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"Einer der größten Pflegeheimskandale"

Die Wiener Stadtzeitung "Falter" hatte am Dienstag nach Eigenangaben bisher "unbekannte Justizakten über einen der größten Pflegeheimskandale der letzten Jahrzehnte" veröffentlicht. "Die Dokumente offenbaren ein mutmaßlich monströses Verbrechen und erschüttern die Erzdiözese Wien, die das 'Haus Clementinum' in Kirchstetten betreibt, und das Land Niederösterreich, das dieses Heim als eines der besten ausgezeichnet hat. Der Fall schreit auch nach dringenden Reformen im Pflegewesen", schrieb die Wiener Stadtzeitung.

In dem Akt gebe es auch "Aussagen, die darauf hindeuten, dass schwer Kranke ermordet werden hätten sollen". So sollen Pfleger eine hoch fiebernde alte Frau in der Kälte ohne Decke vor ein geöffnetes Fenster gelegt haben.

Der Zeitung liegen Polizeiberichte und Einvernahmeprotokolle von Pflegerinnen und Pflegern vor, "in denen minutiös festgehalten wird, wie wehrlose Patientinnen und Patienten gefoltert, sexuell missbraucht und gedemütigt wurden". Weiters würden die Abschriften einer Whatsapp-Gruppe veröffentlicht, "in der sich sadistische Pfleger selbst als 'Blauensteiner' oder 'Lainz-Schwester Waltraut' bezeichnen".

Alkohol auf Genitalien geschüttet

Von der Justiz als Zeuginnen einvernommene Hinweisgeberinnen würden davon berichten, "dass sie dabei waren, wie eine Gruppe von 'Sadisten' Frauen rektal mit der Faust sexuell missbraucht haben soll". Man habe den Senioren "aus purem Sadismus" hochalkoholische Flüssigkeiten (Franzbranntwein) in die Genitalien oder auf den Penis geschüttet "und brüstete sich damit, eine Frau sogar dazu gezwungen zu haben, ihre Exkremente zu essen. Ein Pfleger soll alte Frauen nackt ausgezogen und sich für ein Foto neben sie gelegt haben", schreibt die Zeitung.

Fall seit Oktober 2016 öffentlich

Der Fall war am 18. Oktober 2016 durch die "ZiB 2" öffentlich geworden. Pflegeanwalt Gerald Bachinger betonte am folgenden Tag, dass es ihm um "lückenlose Aufklärung" gehe. Der Betreiber des Pflegeheims zeigte sich "schockiert", Kardinal Christoph Schönborn war erschüttert über die angeblichen Missbrauchsfälle. Der jeweilige Erzbischof von Wien sei "aus historischen Gründen" Schirmherr der Trägerschaft der Einrichtung, habe aber keinerlei Einflussmöglichkeiten auf die operativen Tätigkeiten.

Das Pflegeheim selbst reagierte nicht nur mit fristlosen Entlassungen, sondern auch mit mehreren Maßnahmen: Aufarbeitung der Vorfälle, Personalnachbesetzung, psychologische Betreuung und Einführung einer "Safety Line" für die Mitarbeiter sowie Qualitätssicherung.

Beschuldigter arbeitete weiter als Pfleger

Die Beschuldigten selbst bestreiten die Vorwürfe. Der Hauptbeschuldigte habe "bis gestern allerdings weiter in einem privaten Heim als Pfleger" gearbeitet, "weil es aufgrund einer gesetzlichen Lücke kein Berufsverbot für Pfleger gibt", schrieb der "Falter". Der Mann sei nun freigestellt worden, nachdem die Heimleitung durch die Zeitung von den massiven Vorwürfen erfahren habe.

Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Sie verwies unter anderem auf die Pflegedokumentation und zahlreiche Bewohner, bei denen überprüft werden müsse, ob und in welchem Umfang Körperverletzung oder Gesundheitsschädigungen objektiviert werden könnten. Es wurde auch ein gerichtsmedizinischer Sachverständiger beauftragt, um die Heimbewohner zu begutachten und allfällige Gesundheitsschädigungen als Folgen der Taten festzustellen.

Sozialminister Stöger "erschüttert"

Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) erklärte am Mittwoch, die veröffentlichten Dokumente offenbarten "unfassbare und erschütternde Verbrechen". Man müsse die Qualitätssicherung sicherstellen, der Sozialminister schlägt dafür die Schaffung einer "Bundesagentur für Qualitätssicherung in Gesundheit und Pflege" vor.

"Die Vorwürfe machen mich sprachlos und müssen alle Verantwortlichen zutiefst beschämen", so der Minister, der angesichts der Berichte über sexuellen Missbrauch, Demütigungen sowie körperlicher und psychischer Gewalt meinte, hier seien "sämtliche Grenzen der Geschmacklosigkeit" bei weitem überschritten worden. "Die Verantwortlichen müssen und werden zur Rechenschaft gezogen werden."

Im Sinne der Qualitätssicherung habe er die Bundesländer Ende Juni zu einem Pflegegipfel gebeten. Angesichts der Dimension des aktuellen Falles sei klar, dass es eine bundesweite und unabhängige Kontrolle brauche. Die SPÖ schlägt daher die Einrichtung einer "Bundesagentur für Qualitätssicherung in Gesundheit und Pflege" vor, die künftig etwa die Qualifikation der Pfleger prüfen, aber auch ein Auge etwa auf die Transparenz von Wartezeiten oder Dokumentationen haben soll. (red, APA, 27.9.2017)