Yetnebersh Nigussie: "Afrika ist von der Grundstruktur ein reicher Kontinent, aber es gibt viele Konflikte und schwache Staatsstrukturen."

Light for the world / Sheakoski

Am Dienstag hat Yetnebersh Nigussie den Right Livelihood Award, den Alternativen Nobelpreis, erhalten. Die 35-jährige Äthiopierin, mit fünf Jahren erblindet, setzt sich seit Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Im STANDARD-Interview erklärt sie, was sich in den vergangenen Jahren verbessert hat, und was noch alles zu tun ist. Außerdem sagt Nigussie, was das große Problem in Afrika ist.

STANDARD: Sie erblindeten im Alter von fünf Jahren durch eine Meningitisinfektion, das haben Sie stets als Chance bezeichnet. Warum?

Nigussie: Dadurch konnte ich der Kinderehe entfliehen, die in unserem Dorf üblich war. Meine Mutter etwa wurde mit zehn Jahren verheiratet. Mit meiner Blindheit war ich nicht mehr als Braut geeignet und wurde auch im Dorf nicht mehr geschätzt. Dadurch hatte ich die seltene Gelegenheit, zu Bildung zu kommen. Ich kam in eine spezielle Schule für Blinde, und das war der Grundstein zu dem, der ich heute bin.

STANDARD: Das war vor 30 Jahren. Wie ist die Situation heute für Mädchen in Äthiopien?

Nigussie: Offiziell ist Heiraten erst ab 18 Jahren erlaubt. Die Zahlen sind mittlerweile gesunken, aber Kinderehen sind weiterhin verbreitet. Laut Studien sind 30 bis 40 Prozent der Mädchen betroffen.

STANDARD: Sie waren die erst dritte Frau, die in Addis Abeba Jus studieren durfte und die erste blinde Frau. Wie waren die Reaktionen?

Nigussie: Der Weg dahin war sehr schwierig. Es gab damals nur fünf, sechs Unis im Land. Von meiner Schule durften von 1000 Schülern 16 auf die Uni gehen. Und die ersten beiden Frauen, die vor mir Jus studiert haben, hatten ziemliche Probleme. Viele sagten mir, das sei zu schwierig. Ich sollte lieber etwas Leichteres machen, Lehrerin werden oder Soziologin. Ich sagte aber: Ich wurde geboren, um neue Wege zu beschreiten.

STANDARD: Seitdem setzen Sie sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein, laut WHO sind das etwa eine Milliarde weltweit. Wie steht es aktuell um deren Rechte, vor allem in Afrika?

Nigussie: Es gab viele Fortschritte. Seit 2006 haben wir die UN-Konvention über die Rechte von Behinderungen, sie wurde rasch von vielen Ländern ratifiziert, auch von Äthiopien. In der Realität gibt es aber immer noch viele Diskriminierungen. Menschen mit Behinderung werden isoliert, und zwar in Entwicklungs- und auch Industrieländern. In Afrika gibt es mehrere miteinander konkurrierende Entwicklungsziele. Die Rechte von Menschen mit Behinderung gehen da unter, weil wir keine starke, einheitliche Gruppe sind. Wir arbeiten daher daran, diese Menschen zu stärken, damit sie ihre Rechte einfordern.

STANDARD: Ein Problem in Afrika ist auch, dass viele Menschen so wie Sie erblinden, obwohl das mit der richtigen Behandlung vermeidbar wäre. Was ist hier notwendig?

Nigussie: Das ist einfach, es geht um Zugang zu medizinischer Versorgung. Man sieht es an meinem Fall: Erst drei Jahre nachdem ich meine Sehkraft verloren hatte, hat mich ein Arzt untersucht. In vielen Entwicklungsländern wird medizinische Versorgung der Augen als Luxus angesehen, das sollte aber selbstverständlich sein. Hätte man mich geimpft, wäre ich jetzt nicht blind.

STANDARD: Äthiopien ist stark von der Dürre betroffen. Das ist einer der Gründe für afrikanische Menschen zu flüchten. Was ist notwendig, um Fluchtbewegungen in Afrika zu beenden?

Nigussie: Das große Problem in Afrika ist der Mangel an guter Regierungsführung. Es ist von der Grundstruktur ein reicher Kontinent, aber es gibt viele Konflikte und schwache Staatsstrukturen. Viel von der bisherigen Entwicklungsarbeit war auch auf Individuen gerichtet, nicht auf Systeme. Jeder Ansatz, Fluchtursachen zu bekämpfen, muss die Strukturen und Systeme in Afrika miteinbeziehen. Und im Grundsatz geht es immer um Gier. Wenn Menschen ohne Behinderung ihre Ressourcen nicht teilen, bekommen wir Menschen mit Behinderung nichts ab. Teilen die älteren Menschen nicht, erhalten die Jüngeren keine Chance, sich zu entwickeln. Das führt zu Missständen und schließlich zu Konflikten.

STANDARD: Haben Sie noch Bilder im Kopf von der Zeit, als Sie noch sehen konnten?

Nigussie: Ich kann mich erinnern, dass ich aus einem typischen Bauerndorf auf dem Land kam, die Umgebung war sehr grün. Ich habe immer auf die kleinen Lämmer aufgepasst. Die Bilder kamen vor allem zurück, als ich nach 23 Jahren erstmals wieder in mein Dorf zurückgekehrt bin. Ich habe also meine Erinnerungen, aber nun mache ich neue Erfahrungen, durch Fühlen, Schmecken und Riechen. (Kim Son Hoang, 28.9.2017)