Wien – Seit einigen Monaten beschäftigt Ökonomen quer durch Europa eine knifflige Frage. Obwohl die wirtschaftliche Erholung eingesetzt hat und die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern rapide sinkt, steigen die Löhne nur verhalten an. Woran liegt das?

Das Phänomen bereitet der Europäische Zentralbank Sorgen: Die Lohnsteigerungen sind eine der wichtigsten Determinanten für die Inflationsentwicklung. EZB-Chef Mario Draghi hat in den vergangenen Monaten öfter darauf hingewiesen, dass die Inflation im Euroraum deshalb deutlich unter dem Zielwert der EZB liegt, weil in vielen Staaten kein "Preisdruck" von den Arbeitsmärkten ausgeht.

Am Mittwoch präsentierte der Internationale Währungsfonds ein Forschungspapier zu dem Thema. Die IWF-Ökonomen haben sich die Entwicklung in 29 Industrieländern zwischen den Jahren 2000 und 2016 angesehen – und kommen zu einigen interessanten Erkenntnissen.

Grafik: apa

Zunächst ist die gedämpfte Lohnentwicklung kein rein europäisches Phänomen. Auch in Nordamerika und Asien sind die Löhne in den Jahren seit Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 "deutlich" langsamer gestiegen als in den Vorkrisenjahren. Das gilt für Staaten wie Spanien und Italien, in denen die Arbeitslosigkeit heute höher ist als vor 2008. Doch trifft es auch auf die USA, Kanada, Tschechien, Großbritannien und Südkorea zu, wo die Arbeitslosigkeit heute niedriger oder etwa gleich hoch ist.

Warum Löhne steigen

Traditionell hängt die Lohnentwicklung von ein paar wichtigen Variablen ab. Dazu gehört allen voran die Arbeitslosigkeit. Wenn viele Menschen einen Job suchen und nur wenige Stellen frei sind, ist das Angebot hoch, und die Nachfrage ist niedrig. Die Folge ist, dass Löhne langsamer steigen. Auch die Produktivität, also etwa wie viele Automobilteile ein Fabrikarbeiter in einer Stunde herstellt, ist entscheidend. Schließlich spielt die Inflation eine Rolle.

Laut IWF-Ökonomen hat seit Ausbruch der Krise eine Transformation stattgefunden. Die klassischen Variablen Arbeitslosigkeit, Inflation und Produktivität beeinflussen die Lohnentwicklung heute in vielen Ländern geringer als vor 2008. Ein neuer Einflussfaktor ist hinzugekommen: Teilzeitarbeit, genauer gesagt unfreiwillige Teilzeitarbeit.

Wunsch nach mehr Arbeit

Als unfreiwillige Teilzeitarbeitnehmer gelten für den IWF Menschen, die maximal 30 Wochenstunden beschäftigt sind und angeben, mehr arbeiten zu wollen. In nahezu allen untersuchten Ländern ist die Zahl der unfreiwilligen Teilzeitarbeiter seit 2008 gestiegen. Das half zunächst, um einen stärkeren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Laut Währungsfonds wirkt sich die Entwicklung derzeit aber spürbar lohndämpfend aus. Wenn im Land X die Zahl der unfreiwillig Teilzeitbeschäftigten um ein Prozent ansteigt, fallen die Steigerungen der Bruttolöhne um 0,3 Prozent geringer aus.

Selbst eine Erholung des Arbeitsmarkts führt nicht zwangsweise zu Lohnerhöhungen – die Teilzeitbeschäftigten bleiben.
Foto: apa/Harald Schneider

Die IWF-Experten gehen davon aus, dass Personen, die mehr arbeiten wollen, das Arbeitskräfteangebot erhöhen: Sie konkurrieren mit Arbeitslosen oder Menschen, die ihren Job wechseln wollen, um freie Stellen. Das fällt in den öffentlichen Statistiken bloß nicht so auf, weil jemand, der 15 oder 20 Stunden arbeitet, nicht arbeitslos gemeldet ist. Im Ländervergleich spielt das Phänomen besonders dort eine Rolle, wo die Arbeitslosigkeit höher ist als vor der Krise – in Südeuropa.

Eine Schlussfolgerung des IWF dürfte der EZB nicht gefallen: Selbst wenn die Erholung am Arbeitsmarkt voranschreitet, wird das in vielen Saaten nicht zu den Lohnerhöhungen führen, wie man sie vor 2008 erwarten hätte können. Denn die Teilzeitbeschäftigten verschwinden nicht.

In Österreich dürften die Auswirkungen der Teilzeit auf den breiten Arbeitsmarkt geringer sein: Die Lohnabschlüsse waren zuletzt im Einklang mit der Produktivitätsentwicklung, sagt Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut. Dabei hat Österreich eine der höchsten Teilzeitquoten aller Industrieländer. 13 Prozent der Teilzeitbeschäftigten, das sind 150.000 Personen, gaben zuletzt an, mehr arbeiten zu wollen. Eine der wenigen Ausnahmen beim Trend ist übrigens Deutschland: Dort lagen die Lohnzuwächse 2016 sogar über dem Vorkrisenschnitt. (András Szigetvari, 28.9.2017)