Voltaire nutzte sein englisches Exil für Exerzitien.

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Wien – Voltaires legendäre Spottlust besitzt stark ansteckende Wirkung. Als prominentester Aufklärer seiner Generation verstand es der Notarssohn, die Vorzüge verschiedener Lebensarten auf sich zu vereinigen. Voltaire (1694-1778) hieß eigentlich François Marie Arouet "le jeune". Schon als junger Mann verkehrte der Pariser in den Zirkeln der erlesensten Freigeister.

Ziel von Voltaires Spott sind die Auswüchse des Absolutismus. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verlieren die Vertreter der Aristokratie ihre Unabhängigkeit, indem sie sich den Monarchen als Höflinge andienen.

Glaubensrichtungen wie der Jansenismus sind en vogue. Dieser propagiert die Weltverneinung und verwirft Kunst als lästerliches Teufelszeug. Privat weiß Voltaire die Vorzüge eines aristokratischen Lebenswandels zu schätzen. Als politischer Autor lehrt er jedoch die Qualitäten der Skepsis und der Unvoreingenommenheit. Klüger noch: Er beginnt, die Erkenntnisse der Mechanik wie die der Naturwissenschaften aus dem Sammelsurium der damaligen "Philosophie" herauszulösen.

Liebe zu den Beweisführungen Newtons

Voltaires ganze Liebe gehört den Beweisführungen von Sir Isaac Newton. Seine Liebe zur angelsächsischen Geisteswelt verleiht den Briefen aus England erst deren Witz, deren überschäumenden Elan. Den Autor des Candide und späteren Berater gekrönter Häupter verschlägt ein Willkürakt auf die Insel jenseits des Ärmelkanals. Ein feindlicher Wortwechsel mit einem Chevalier trägt dem engagierten Intellektuellen 1726 nicht nur eine saubere Tracht Prügel ein.

Voltaire muss in der Bastille einsitzen, ehe er auf eigenen Wunsch nach England ins Exil geht. Dort hat sich nach diversen konfessionellen Konflikten ein tendenziell rückständiges Land in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt. Voltaire kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er sieht, wie ein Volk von Pragmatikern die Frage nach der "wahren" Rechtgläubigkeit endlich hintanstellt, wie es den Handel fördert und den allgemeinen Wohlstand mit vernünftigen Verordnungen hebt.

Fünkchen von Geschmack

Voltaires Briefe aus England (auch Philosophische Briefe genannt), erstmals 1734 erschienen, gehören zu den Gründungsdokumenten der engagierten Literatur. Sie enthalten alles, was die Kunst abendländischer Essayistik fortan ausmacht: ein Engagement, das sich zu klug dünkt, um sich mit Schaum vor dem Mund erwischen zu lassen. Eine Spottlust, die zeitgenössischen Erscheinungen wie den Quäkern einige Schneid zubilligt, um dann doch vor der Verbohrtheit von so viel Rechtschaffenheit zu kapitulieren: "Es ist falsch, einem Manne etwas von den Fehlern seiner Liebsten zu sagen oder einem Kläger etwas von den Schwachpunkten seiner Sache oder einem Erleuchteten etwas von Begründungen ..."

Der Dichter als Denker wird später als intellektueller Unternehmer und Finanzhai von sich reden machen. So, wie Voltaire die Widersprüche seiner Epoche zum Ausdruck bringt, erforscht er den voraussetzungslosen Gebrauch aller gedanklichen Werkzeuge. An Shakespeare beklagt er den Nichtbesitz "des geringsten Fünkchens guten Geschmacks". Voltaire weiß bereits, was einem Staatswesen nottut: kein "wohlgepuderter Herr", der weiß, zu welcher Stunde sich sein König erhebt. Es ist der Kaufmann, dessen Aufträge in Übersee wirksam werden. Voltaire ist der Denker der ersten Globalisierung.

Die mustergültige Neuedition der deutschen Übersetzung von 1985 erhellt uns Nachgeborenen die Sprengung auch der letzten Grenzen der Welt. Von den Briefen aus England führt ein schnurgerader Pfad hin zur Erstürmung der Bastille. (Ronald Pohl, 29.9.2017)