Der Kanzler und sein Tourbus.

Foto: Cremer

Drinnen liest Kern eine Geschichte der "Tagespresse" vor.

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Kern, wie er sich selbst gern sieht: in Denkerpose.

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Marchtrenk – Wo bitte ist Marchtrenk? Wer auf der A25 unterwegs ist, findet die Ausfahrt, von Wien kommend, kurz vor Wels. Und dort gibt es ein Kulturzentrum, den "Kulturraum Trenks" – Genosse Herbert ist dort seit halb sechs Uhr gesessen, er wollte ja nichts verpassen. "Ein bisserl lang hat es schon gedauert, der ist ja erst um halbe achte gekommen", resümiert er den Auftritt des Bundeskanzlers.

Aber gelohnt, sagt er auf Nachfrage, gelohnt habe es schon. Auch wenn die örtlichen Parteifunktionäre alle Mühe hatten, das Publikum über die Wartezeit hinweg zu unterhalten – sobald der Star auf der Bühne steht, ist alles konzentriert. Wobei es ohnehin nicht so schnell geht zwischen dem Verlassen des Tourbusses und dem Erreichen der Bühne: Funktionärinnen wollen geküsst werden, Jusos wollen ein Selfie.

Die Fans warten

Der Bundeskanzler küsst. Er lässt sich fotografieren. Er plaudert mit dem einen oder anderen, immer nur ganz kurz – er weiß ja auch, dass da mehr als 600 Fans warten. Fans, die eine Show erwarten.

Und Kern liefert. Er steigt auf die Bühne, steht vor einem riesengroßen Schwarzweißporträt seiner selbst, das ihn in Denkerpose zeigt. Es dauert keine Minute, bis er sein Sakko ausgezogen hat. Hemdsärmelig redet er los, weist immer wieder unterstreichend darauf hin, was ihm besonders wichtig erscheint, gezählte 13 Mal kommt eine entsprechende Formulierung in einer dreiviertelstündigen Rede vor.

Heimspiel

Da hat er inzwischen auch die Manschetten geöffnet. Ein Signal des Ärmelaufkrempelns. Die Krawatte lockert er seltsamerweise nicht, aber das ist auch nicht notwendig. Denn sein Wahlkampfauftritt in Marchtrenk ist eine Art Heimspiel, er ist unter Genossen. Die meisten mit grauen Haaren, aber eine starke Fraktion sehr junger Anhänger steht weiter hinten, hält Schilder hoch, die den Aufschwung loben und Kerns Wahl empfehlen. Und sie klatschen natürlich, wenn Christian Kern eine rhetorische Pause macht.

Kern ist ein Rhetoriker der Anekdoten. Gern erzählt er – nicht nur hier in Marchtrenk, sondern immer wieder vor jüngeren Zuhörern – die Geschichte jener Studentin, die ihn in Linz angesprochen hat, um ihm für die Erhöhung der Stipendien zu danken. Sonst hätte sie ihr Studium nicht weiterführen können. Denn sie sei aus einfachen Verhältnissen, der Vater Elektriker. Eine Parallele zu Kerns Biografie, man meint, eine Träne der Rührung in seinen Augen zu sehen. Jedenfalls gibt es viel Applaus.

Kritik an ÖVP

Ebenfalls für das jüngere Publikum gedacht ist die Kritik an der ÖVP, die den Erwerb von Eigentum am Wohnraum empfiehlt – was der Mieterpartei SPÖ gar nicht gefällt, weil sie die Hausherrn und Vermieter immer schon als Feindbild hatte. Das Narrativ ist, dass man sich Wohnungseigentum ohnehin nicht leisten könne und dass lieber die Mieten gedeckelt werden sollten. Wenn Sebastian Kurz Eigentumswohnungen empfehle, dann komme er ihm vor wie Marie Antoinette, die den hungernden Franzosen empfohlen hatte, doch Kuchen zu essen, wenn sie kein Brot hätten.

Applaus. "Sebastian Kurz ist die Marie Antoinette der österreichischen Innenpolitik." Stärkerer Applaus. "Das hab ich jetzt gebraucht, sonst glauben die Leute, nur ich bin die Prinzessin." Jubel.

Lesung im Bus

Der Bundeskanzler hat also Humor. Er hat ihn schon während der Anreise bewiesen, hat sich als Fan der satirischen Website dietagespresse.com bekannt und seinem Team im weißen Tourbus die "Tagespresse"-Geschichte über seinen Konflikt mit Wolfgang Fellner und "Österreich" vorgelesen: "Insidern zufolge hat der Inseratenstopp finanzielle Gründe. Ein SPÖ-Funktionär bestätigt: 'Das Glaskinn-Dossier über Kern war nicht billig. Wir haben insgesamt schon 500.000 Euro für Dirty Campaigning gegen uns selbst ausgegeben. Wir sind einfach finanziell am Limit.'"

Ja, natürlich, die Finanzen! Noch so ein Angriffspunkt, an dem er die ÖVP zu treffen versucht. Immer wieder kritisiert Kern die Großspenden, die in der türkisen Kampagnenkasse landen. Seine Fans verstehen: Wenn die ÖVP um so viel Geld werben kann, dann kann sie leicht den Eindruck erwecken, die stärkere Partei dieser Wahl zu sein.

Hoffen auf Underdog-Effekt

Doch Kern kann dem ja etwas entgegensetzen: den Eindruck nämlich, die Sozialdemokraten seien arm, aber sauber. Und vielleicht auch stärker motiviert als der bisherige Regierungspartner. Underdog-Effekt nennt man das in der Wahlforschung.

Kern jedenfalls versucht Motivation zu versprühen. Keine Andeutung davon, dass die SPÖ diese Wahl verlieren könnte. Nur der Hinweis, dass sich seine Mitbewerber, mit denen er sich immer wieder bei Fernsehdiskussionen trifft, vor inhaltlichen Diskussionen drücken würden, weil ihre eigentlichen Ziele den Interessen der Österreicher – oder zumindest seines jeweiligen Publikums – widersprechen würden: "ÖVP und FPÖ wissen, wenn man ernsthaft darüber reden würde, was die sich vorstellen, das würde doch kein Mensch wählen."

Darum gehe es. Nicht um ihn selbst: "Das ist nicht meine Wahl, liebe Freunde, das ist eure. Da geht es um die Zukunft Österreichs." Sagt es, genießt kurz den Applaus, geht dann ab von der Bühne, um sich dem Ritual zu stellen, dass hunderte Fans Selfies mit ihm machen wollen. Dann geht es weiter. Der Bus mit der Aufschrift "Hier kommt der Aufschwung" wartet schon. (Conrad Seidl, 30.9.2017)