Seit ich die Fernsehbilder aus Universum vor vielen Jahren im Kindeskopf abgespeichert habe, ist der südamerikanische Urwald für mich ein Mysterium. Tausende Kilometer dichter Dschungel, in dem überirdische Mythen seit Jahrtausenden überleben – und einer wie ich, alleine, wohl keine zwei Tage. Meine zweiwöchige Reise durch das peruanische Amazonien gab mir Perspektiven, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte. Sinne und Instinkte wurden aktiviert, die ich zuvor noch nie gebraucht habe. Und nach vier Tagen auf einem Frachtboot mit Schweinen, Hühnern und Kühen wusste ich dann auch, warum ich der einzige Gringo an Bord war.

Bananen an Bord – zum Verkauf in Iquitos
Foto: Jakob Horvat

Am Rio Napo von der ecuadorianischen Grenze nach Iquitos, Perú

Es war bereits dunkel, als ich meine Hängematte zwischen zwei rostigen Eisenstangen verknotete. Das rustikale Passagierdeck des alten Frachtbootes war mit schmutzigen Metallplatten ausgelegt. Nach oben gewölbt, sodass mit jedem zweiten Schritt ein dumpfer, unheimlicher Hall erdröhnte, wenn sich der Boden nach unten bog. Mein dritter Tag im Amazonas Regenwald neigte sich dem Ende zu. Das Abenteuer begann aber hier, auf dem Rio Napo, erst richtig. Vier Tage und vier Nächte auf dem alten Frachtboot lagen vor mir. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung davon, was mich erwartete.

Die Flussreise begann in Pantoja. Schon in Perú, aber einen Steinwurf von der ecuadorianischen Grenze entfernt. Rund 500 Kilometer stromabwärts liegt Iquitos. Regenwaldmetropole mit knapp 440.000 Einwohnern, peruanische Hauptstadt von Amazonien und eine der abgelegensten Städte der Welt. Keine einzige Straße verbindet sie mit der Außenwelt. Umringt von Urwald in alle Himmelsrichtungen. Bis zum Horizont – und dann noch sehr viel weiter. Die meisten Reisenden fliegen. Ich wollte sehen, spüren und erleben was dazwischen liegt.

Fässer, Hühner und Posaune am Oberdeck
Foto: Jakob Horvat

Eine andere Welt

Zunächst einmal: mehr menschliches Leben, als ich dachte. Von einsamen Bambushütten, die da mitten im Nirgendwo stehen, bis zu ganzen Dörfern mit mehreren hundert Bewohnern. Wann auch immer der Kapitän das Boot drehte, um es flussaufwärts an das schlammreiche Ufer zu manövrieren, kamen Kinder dahergelaufen. Viele Kinder. "Wir haben viel Zeit hier, sie zu zeugen", scherzte einmal einer, der den indigenen Quechua angehört, dem größten und in Perú am weitesten verbreiteten Eingeborenenstamm. Acht, neun Kinder pro Familie ist eher die Regel als die Ausnahme – ich habe welche kennengelernt, die zählten deren 15.

Wenn das Frachtboot anlegt, kommen die Kids aus allen Richtungen dahergelaufen.
Foto: Jakob Horvat

Von Schweinen als Reisegefährten

Das Frachtboot, an dessen Geräusche, Dreck und Gerüche ich mich nur schwer gewöhnen konnte, ist für die Menschen hier die einzige Verbindung nach außen. Alle paar Wochen kommt es daher – ein Event, zweifelsohne. Schon am zweiten Tag war das Deck voll. Nun gut, ich dachte, es wäre voll. Ich habe die Möglichkeit ignoriert, dass Hängematten auch übereinander aufgehängt werden können. Ganze Familien checkten ein. Bald setzte sich die Geräuschkulisse zusammen aus Babygeschrei, Metallplattenkrach, knatternden Dieselmotoren und – Überraschung – dem Krähen und Gackern von Hähnen und Hühnern. Ich fühlte mich wie im Film, beobachtete still und mit offenem Mund, kam aus dem Staunen nicht heraus. Als die erste Sau laut grunzend an Bord gehoben wurde, wunderte mich das nicht mehr. Als wäre ich ohnehin schon auf alles gefasst gewesen. Dachte ich.

Am zweiten Tag konnte man zwischen den Hängematten noch durchgehen.
Foto: Jakob Horvat

Eines nachts gab es Tumult an Bord

Ich schenkte dem zunächst keine besondere Aufmerksamkeit, war in mein Buch vertieft. Laute Männerstimmen, immer wieder. Es dauerte, bis ich realisierte, dass sich das Boot seit geraumer Zeit nicht bewegte. Ich stieg aus der Hängematte und kletterte aufs Oberdeck. Was ich sah, machte mich für einige Minuten sprachlos. Ein 600 Kilogramm schwerer Bulle – ich habe später nachgefragt – wehrte sich mit verzweifelter Kraft gegen die Anstrengungen von 21 Männern, ihn an Bord zu hieven. Seine Beine waren zusammengebunden, sein Kopf blutete stark. Vom vielen wehrhaften auf die Holzplanken schlagen, erzählte man mir. Es dauerte über zwei Stunden, bis das Tier auf der Ladeplattform lag und diese binnen weniger Minuten voll blutete.

Die Rechnung geht auf

Einer, der sein Tier im Dorf schlachtet und von ebendort aus verkauft, verdient umgerechnet rund zwei Dollar pro Kilo Rindfleisch. Tut er sich aber die Arbeit an, nimmt sich zwei Wochen Zeit, reist mit lebendigem Tier samt Kind und Kegel in die Hauptstadt und verkauft sein Fleisch am Markt, so bekommt er das Doppelte. Ich verstand nun, was ich erlebte. Das Fremde wurde ein klein wenig nachvollziehbarer.

Mittlerweile waren rund 40 Menschen an Bord

Alle bewohnten sie Dörfer entlang des Flussufers, alle gehörten indigenen Stämmen an. Alle, außer mir und dem langhaarigen, Posaune spielenden Ecuadorianer Luis. Der Einzige, zu dem ich hier einen Draht hatte. Meine Reisegenossen starrten mich zuweilen an, als hätten sie nie zuvor einen Weißen gesehen. Eine Vermutung, die wohl nahe dran ist an der Wirklichkeit. Derartiges spitzte sich zu, wenn ich mein Essen ohne Fleisch bestellte – es blieb dann in der Regel eine halbe Kochbanane und nackter Reis übrig. Oder wenn ich mir mit dem Finger in die Augen fuhr, um meine Kontaktlinsen einzusetzen.

Ich versuchte, mit meinen Mitreisenden in Kontakt zu kommen. Mit meinem gebrochenen Spanisch machte ich Witze, die andere Südamerikaner üblicherweise zum Lachen brachten. Wenn sie auch nur der Höflichkeit halber schmunzelten – gut genug, um das Eis zu brechen. Doch hier? Hier funktionierte das nicht. Hier sah man mich an, als sprach ich japanisch. Nach zwei Tagen stellte ich meine Bemühungen ein, zog mich 20 Stunden pro Tag in meine Hängematte zurück, las, verlor mich in Cheryl Strayed’s sehr empfehlenswertem Hörbuch "Wild – From lost to found on the Pacific Crest Trail" und lauschte einem der besten Alben der Welt, immer und immer wieder: Pink Floyd’s "The Endless River"; Musik zum Zeitgeschehen. Die restlichen vier Stunden des Tages saß ich am Oberdeck, gleich neben den hölzernen Hühnerkäfigen. Ich bestaunte den Dschungel, der sich vom Flussufer weg bis in die gefühlte Unendlichkeit erstreckte. Hörte das Konzert einer Tausendschaft an Tieren, die pünktlich zum Einbruch der Nacht ihre Sinfonien anstimmten.

Sonnenuntergang am Rio Napo
Foto: Jakob Horvat

Am dritten Tag spürte ich die Einsamkeit

Noch nie habe ich mich so fremd gefühlt. Emotionale Distanz und Vorurteile lagen zwischen mir und den anderen. Ich dachte nach. Versuchte, mein eigenes Verhalten zu reflektieren. Erkannte, dass es nicht fair war. Vertrauen aufzubauen dauert eben umso länger, je weniger Gemeinsamkeiten bestehen. Doch immerhin: wir hangen alle im selben Boot.

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Neue Attitüde, neue Optionen

An diesem Nachmittag sprach mich Franklin an. Er ist Lehrer in einem Dschungeldorf, einen Tag stromaufwärts. Franklin reiste nach Iquitos, um Papierkram zu erledigen und seine beiden Töchter zu besuchen. Sie studieren in der Hauptstadt. Einmal Familie besuchen und zurück dauert neun Tage – vier hin, fünf zurück. Seine Mädels hätten nicht vor, wieder ins Dorf zurückzukehren, sie wollten richtige Jobs, erzählte Franklin. Das Eingeborenenleben spricht viele Jugendliche nicht mehr an. Was das größte Problem in seinem Dorf sei, fragte ich. "Wir verlieren langsam unsere Kultur, unsere Traditionen, unsere Identität", lässt mich der 35-jährige wissen. Ich erfahre von Satellitenfernsehern, die von Stromgeneratoren betrieben werden und die Familien im Dschungel längst mit westlichem Stumpfsinn unterhalten. Ein bizarres Kontrastverhältnis zu uralten Traditionen, gepflegt über Jahrtausende, die für die Jugend von heute nicht mehr cool genug sind. "Unsere Kinder tragen lieber synthetische Fußballtrikots als traditionelle Kleidung und sie wollen die Stammessprache nicht mehr lernen." Kolonialisierung findet auf vielen Wegen statt. Oftmals schleichend.

Franklin ist Lehrer in einem Dorf, einen Tag flussaufwärts
Foto: Jakob Horvat

Und da war er, der Moment, in dem alles wieder Sinn machte

Warum ich mir eine solche Reise antue. Warum ich das Abenteuer suche und gerne den beschwerlicheren Weg gehe. Weil sich Geschichten wie diese auf ausgetretenen Pfaden nicht abspielen. Was ich in diesen vier Tagen erfahren durfte, hat meine Sicht auf die Welt um ein paar Nuancen verfeinert. Und dennoch war ich heilfroh, die Rostschüssel in Iquitos endlich verlassen und in einem Hostel einchecken zu können. Voll mit Backpackern, die neugierig fragten: "Where are you from? How long are you traveling for?"

Das ging eine Nacht lang gut, dann musste ich wieder raus. Ich buchte noch am selben Abend eine Tour für vier Tage. Hinaus aus der Komfortzone. Hinein in den Dschungel. Auf Tuchfühlung mit der wilden Natur. Selten habe ich mich so lebendig gefühlt. (Jakob Horvat, 29.9.2017)

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Kosten

  • Boot Coca (Ecuador) – Nuevo Rocafuerte (Ecuador): 18$
  • Boot Nuevo Rocafuerte (Ecuador) – Pantoja (Perú): 10$
  • Frachtboot Pantoja (Perú) – Iquitos (Perú): 30$
  • 4 Tage Dschungelcamp: 200$

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